Leadership Essays 2019

Die Vielfalt der Vielfalt

Sarah Bleuler, Olivia Caluzi, Sven Ricman, Joséphine Schöb, Martin Sturzenegger

Manifest
Es ist 2019 und wir sprechen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Von selbstfahrenden Autos, geklonten Menschen und der Kolonisation von Mars. Wir sprechen von unbegrenzten Möglichkeiten und leben in schwindelerregender Geschwindigkeit. Gleichzeitig stecken wir in Strukturen fest, die nichts anderes als verwesende Relikte aus dem letzten Jahrhundert sind. Strukturen, in denen Frauen noch immer eine Seltenheit in den hiesigen Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten darstellen. Wo Homosexuelle sich verstecken und verleugnen müssen. Wo Menschen mit Migrationshintergrund als gewalttätig und faul abgestempelt werden. Und 60-Jährige damit rechnen müssen, jeden Augenblick aufs Abstellgleis gestellt zu werden. Ja, wenn es um Organisationen geht, setzen wir in der Schweiz auf beschränkt, alt und verstaubt. Damit soll jetzt Schluss sein. Ein für alle Mal.

Und hier kommen wir ins Spiel, wir, die Führungspersonen der Zukunft. Denn es ist unsere Verantwortung, Mitarbeitende zu motivieren, zu fördern und fordern, damit wir gemeinsam herausragende Arbeit leisten können. Es ist unsere Verantwortung, eine Kultur zu schaffen, in der alle Mitarbeitenden Chancengleichheit und Wertschätzung erfahren, unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität, Religion oder Weltanschauung, körperlichen und geistigen Fähigkeiten oder sexueller Orientierung. Es ist unsere Verantwortung, Raum und Zeit zu geben, für unsere Kolleginnen und Kollegen und für uns selbst, damit wir gemeinsam eine Welt erschaffen können, die Spass macht. Gutes tut. Schön ist. Und uns Halt gibt. Die ein Zuhause bietet für uns, unsere Kinder und unsere Kindeskinder. Jeden Tag aufs Neue.

Seid ihr bereit?

Diversität ist jetzt – Denkanstösse für Führungskräfte und Organisationen

Unsere Welt verändert sich. Wir werden älter, bunter, mobiler, individueller. Die Diversität unserer Gesellschaft wächst – auch in der Schweiz. Und das ist gut so. Studien zeigen, dass Diversität unter den richten Rahmenbedingungen zunehmend ein wichtiger Erfolgsfaktor für Unternehmen ist. Vielfältige Teams sind durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Einflüsse, Sichtweisen und Fähigkeiten resonanzfähiger, kreativer, agiler und innovativer. Und tragen so zu einem besseren und nachhaltigeren Geschäftserfolg bei.

Leider ist die Diversität in Schweizer Unternehmen laut dem «Diversity Index» [1] der Hochschule Luzern ziemlich ernüchternd. Die Resultate bestätigen auch unsere Wahrnehmung: Das Potenzial von heterogenen Teams wird bei weitem nicht genügend ausgeschöpft, und es besteht dringender Handlungsbedarf. Also los!

Im Folgenden laden wir euch, liebe Lesende, ein, uns auf einer Wanderung durch das weite Gefilde der Vielfalt zu begleiten. Wir wandern in fünf Etappen zum Gipfel, in denen wir fünf für die Schweiz wichtige Dimensionen von Diversität erkunden: Geschlecht, Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung sowie physische und psychische Gesundheit. Zudem packen wir dazwischen in kleinen Intermezzi fünf persönliche Geschichten und Erfahrungen aus und zeigen, was wir alles so in unseren eigenen Rucksäcken mit uns tragen.

Unterwegs mit dem «Unconscious Bias»

Seid vorgewarnt, es wird mitunter anstrengend, denn das Ziel einer offenen und unvoreingenommenen Arbeitswelt liegt in weiter Ferne. Auch den Sportlichen unter euch sei bewusst: Wir Menschen, genauer gesagt unsere Gehirne, sind im Grunde genommen ziemlich bequem. Um mit der Flut von Alltagsinformationen umzugehen, greifen diese beim Grossteil unserer Reaktionen auf gespeicherte Muster und Assoziationen zurück. Aufgrund tief verankerter Stereotypen schreiben wir auf diese Weise Dritten automatisch bestimmte Eigenschaften zu. Dieses unbewusste Phänomen, der sogenannte «Unconscious Bias» [2], prägt unseren Alltag und hat damit eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Bedeutung. Kein Mensch, auch keine noch so erfahrene Führungsperson, ist gefeit vor hartnäckigen, kognitiven Verzerrungen, die sich in unseren unbewussten Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozessen festgesetzt haben.

Somit werden wir auf unserer Wanderung auch dem Unconscious Bias immer wieder begegnen, – und das ist wichtig. Denn um einen Schritt weiterzukommen, müssen wir dringend ergründen, wie unsere unbewussten Vorurteile uns, unseren Alltag und unsere Organisationsstrukturen prägen.

Doch keine Sorge: Wir verlieren das Ziel nicht aus den Augen. Vielmehr liegt die eigentliche Kraft der bevorstehenden Entdeckungsreise darin, einfach loszulaufen, unterwegs zu sein und dran zu bleiben. In diesem Sinne: Wanderschuhe an, Sonnenhut auf – viel Spass auf dem Streifzug durch die Vielfalt der Vielfalt!

Etappe 1: Willkommen im Gender-Tal

«Wenn Frau will, steht alles still»: Am 14. Juni 1991 legte in der Schweiz eine halbe Million Frauen die Arbeit nieder. Sie forderten die Umsetzung des Gleichstellungs-Artikels, Lohngleichheit, bessere Ausbildungschancen, mehr Krippenplätze. Sie protestierten gegen sexuelle Gewalt und sexistische Werbung. In den Jahren danach wurden unter anderem das Gleichstellungsgesetz verankert, der Schwangerschaftsabbruch legalisiert und die Mutterschaftsversicherung eingeführt. Und trotzdem, am 14. Juni dieses Jahres gingen die Frauen erneut auf die Strasse.

Im öffentlichen Diskurs existiert inzwischen zwar durchaus die Meinung, dass Gender-Diversität in Teams und Führungsgremien sinnvoll ist, weil Frauen andere Sichtweisen, Erfahrungen und Kompetenzen einbringen. Führungsqualitäten wie Kollaboration, Kommunikation, Empathie und Flexibilität – Fähigkeiten, die dem weiblichen Geschlecht sicher nicht fremd sind – gewinnen an Relevanz. Im Vergleich zur Aufmerksamkeit, die das Thema erhält, hat sich quantitativ aber sehr wenig verändert.

Kurzer Einschub: Ja, die binäre Geschlechtsdefinition Mann/Frau ist eigentlich nicht mehr zeitgemäss, auch wenn intersexuelle und nicht-binäre Menschen in der Schweiz juristisch inexistent sind. Medial und gesellschaftlich werden sie vor allem dank dem Engagement der LGBTIQ-Community endlich sichtbarer. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion bleiben wir in diesem Teil der Wanderung aber bei der binären Trennung – auf die LGBTIQ-Gruppe treffen wir in der vierten Etappe.

Also, nochmals von vorne: Von einer adäquaten Vertretung von Entscheidungsträgerinnen in Schweizer Unternehmen kann keinesfalls gesprochen werden. Der Frauenanteil in den Geschäftsleitungen Schweizer Grossfirmen liegt bei 9 Prozent, in Verwaltungsräten bei 21 Prozent [3]. Diversity-Check: Negativ. Traditionelle Rollenbilder einer Gesellschaft, in der Frauen keine berufliche Karriere verfolgen, sind noch immer tief verankert. Und wenn sie es doch tun, sollen sie arbeiten, als hätten sie keine Kinder, und sollen Mutter sein, als hätten sie keine Arbeit.

Institutionalisierte Bias in der Form von Rollenerwartungen an Männer und Frauen sind einer der wichtigsten Gründe für die Unterrepräsentation von Frauen in Führungsgremien. Zudem mangelt es an strukturellen Rahmenbedingungen wie flexiblen Arbeitszeiten, einem gesetzlich verankerten Elternurlaub – die Schweiz ist das letzte europäische Land ohne Vaterschaftsurlaub – oder Unterstützung bei der Kinderbetreuung, … You name it.

Um dem entgegenzuwirken brauchen wir sensibilisierte Führungskräfte, die sich dafür einsetzen, dass Frauen in Bewerbungsprozessen berücksichtigt werden und Zugang zu karriererelevanten Aufgaben haben, dass Frauen gleich viel verdienen wie ihre Kollegen und dass flexible Arbeitszeiten und -formen zur Regel werden statt die Ausnahme bleiben. Es braucht Führungskräfte, die im richtigen Moment Quoten einsetzen. Ja, Quoten! Wir schreien es laut ins Tal hinein. Man kann über sie denken was man will. Doch es gibt Umstände, unter denen sie über eine bestimmte Zeit eingesetzt werden müssen. Denn um Diversity-Effekte zu erreichen und strukturelle sowie geschlechterdiskriminierende Mechanismen zu überwinden, ist eine kritische Masse von mindestens 30 bis 40 Prozent Frauenanteil nötig.

Vor allem aber brauchen wir Durchhaltevermögen und Mut. Und Frauen brauchen eine laute Stimme. Traditionelle Rollenbilder werden nur gebrochen, wenn sich Frauen Visibilität und Gehör verschaffen. Julius Meurer, ein offensichtlich progressiver Alpinist, drückte es 1892 folgendermassen aus: «Die Damen sollten unverzagt zum Bergstock greifen, das Bergsteigen ist für sie nicht minder wohltätig wie für die Männer, und sie werden gar bald gewahr werden, dass, wenn nur der gute feste Vorsatz und ein starker Wille gefasst sind, sie so gut und so leicht auf die Höhe aufsteigen, wie ihre männlichen Begleiter.»

Junge Menschen brauchen starke, weibliche Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Frauen, die ihre Ansprüche und Ziele kommunizieren, sich gegenseitig bestärken, unterstützen und fördern. Frauen, die erfolgreich sind, weil sie sich für sich und andere einsetzen, sich trotzdem treu und untereinander solidarisch bleiben. Und es braucht Männer, die Frauen die Bühne überlassen. Denn nur wenn Frauen sichtbar werden, reduziert sich über die Zeit der Unconscious Bias, der mitverantwortlich ist, dass sie noch immer mit anderen Massstäben gemessen werden als ihre männlichen Kollegen.

Eine Geschichte aus dem gelben Rucksack
Und dann war ich so verliebt in Seraina, ich konnte einfach nicht Nein sagen. Also, auf ins Cerebral-Lager als Leiter. Da werden Kinder mit einer cerebralen Behinderung Eins-zu-eins von Jugendlichen betreut, eine Woche lang, um ihren Eltern mal eine Pause vom Dauerbetreuungs-Stress zu gönnen. Cerebral? Behinderung? Keine Ahnung. Und bis dato war ich eigentlich nie direkt in Berührung mit gekommen mit Menschen mit einer Behinderung.

Mir wurde Reto zugeteilt, mit 14 Jahren nur ein Jahr jünger als ich, schwerbehindert und im Rollstuhl. Ein Austausch über Sprache war nicht möglich, Reto konnte lediglich Freude oder Unmut kundtun, mit heftigem Schaukeln im Rollstuhl, der sich dadurch jeweils ruckartig durch den Raum bewegte. Das erste Nachtessen war eine Katharsis: Ich, der Hyper-Schnellesser, brauchte dazu fast zwei Stunden. Ich musste Reto füttern, wobei er die Hälfte jeweils wieder raussabberte.

Wow, eine neue Welt tat sich mir auf: Memory spielen? Schon, dauert aber ewig, weil zwei Mitspieler nur Ja und Nein mit Nicken sagen können. Also geometrisch auslegen, dann Reihe für Reihe abfragen und wenn die richtige Reihe gefunden, dann Kärtchen für Kärtchen dasselbe Spiel.

Beim Ausflug mit den Kids war Seilbähnli-Fahren angesagt. Für mich, mit panischer Höhenangst, natürlich per se der Horror. Wenigstens freute sich Reto. Aber Moment: Jep, Freude gleich Schaukeln. Auf dem Sesseli-Lift! Mit mir nebendran! Ich starb tausend Tode.

Am Ende der Woche assen Reto und ich mit dem gleichen Löffel, ich konnte mit dem Rollstuhl auf dem Hinterrad balancierend Lift fahren und mit Seraina durfte ich hinten im Bus rumknutschen.

Was ist geblieben? Nein, Seraina nicht. Dafür die Erkenntnis, dass da draussen noch ganz viele Welten sind, die vielleicht verstörend sind im ersten Moment, aber rasch viel Spass machen und meinen Horizont erweitern.

Etappe 2: Auf dem Höhenweg der Altersheterogenität

Schlagzeilen wie «Die Millennials kommen» oder «Generation Y übernimmt» liest man auf den Titelseiten unserer Zeitungen. Alles ist im Fluss, die Arbeit wird dezentralisiert und von digitalen Nomaden in Co-Working-Spaces erbracht. Und gleichzeitig werden wir alle immer älter und arbeiten auch länger. Laut Bundesamt für Statistik steigt die Lebenserwartung alle drei Jahre um rund ein Jahr [4]. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosenquote bei den 50- bis 64-Jährigen an und sinkt bei den 15- bis 24-Jährigen. Interessanterweise steigt parallel dazu das durchschnittliche Alter beim Austritt aus dem Arbeitsmarkt. Das heisst, in Zukunft sind wir mit einer immer höher werdenden Arbeitslosenquote im Alter konfrontiert. [5]

An sich bewegt sich die Gesellschaft weg von bestehenden Arbeitsstrukturen, die nach der zweiten industriellen Revolution geschaffen wurden. «8 to 5» und Stempeluhr sind klassische Relikte aus dieser Zeit. Ältere Mitarbeitende sind an diesen Rahmen gewöhnt und müssen sich, nebst rasanten technologischen Veränderungen, jetzt auch strukturell komplett neu orientieren.

Nebst dem Anpassen von Rahmenbedingungen scheint aber auch die Diskussion verschiedener Weltsichten nötig. Denn in Unternehmen sind Agilität, Innovation und Flexibilität die neuen Treiber. Inmitten vieler Unternehmen entsteht also ein Graben zwischen Generationen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Arbeit und Karriereentwicklung. Und «die Alten» landen auf dem Abstellgleis. Darin liegt nicht nur ein soziales Problem, sondern, im Gegenteil, eine verpasste Chance.

Ältere Mitarbeitende fördern die Arbeitsumgebung mit ihrer Arbeits- und Lebenserfahrung. Zudem ist die Arbeitsmoral eine andere als bei den jüngeren Arbeitnehmenden. Studien zeigen, dass ältere Mitarbeitende eher gewillt sind, Überstunden zu leisten, weniger krank sind und zudem über ein höheres Netzwerk verfügen. In Anbetracht dessen müssen also konkrete Plattformen und Rahmenbedingungen geschaffen werden, um zu ermöglichen, das Teams hinsichtlich Alter gut durchmischt sind und bleiben.

Mit einer «Change University» innerhalb der Firma zum Beispiel können ältere Mitarbeitende in veränderten Anforderungen geschult werden. Zudem könnte das starre Korsett mit einer grundlegenden Verschiebung weg von Stellenbeschrieben hin zu einem Rollenverständnis gebrochen werden. So besteht die Möglichkeit, Ausprägungen einer «ganzen» Stelle modular zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Organisationen müssen Positionen nicht auf einen Schlag neu definieren, sondern können sukzessive neue Konstellationen bilden.

So oder so: In der Zusammenstellung von Teams ist es sinnvoll, bewusst auf die Altersheterogenität zu achten. Eine wichtige Basis der Innovation ist Flexibilität. Ja, frischer Wind tut Unternehmen gut. Nichtsdestotrotz darf man die Kraft von langjähriger Erfahrung nicht unterschätzen. Neugierde und Lernbereitschaft sind hier das A und O. Und statt «die Jungen» oder «die Alten» als Bedrohung zu sehen, müsste diese vermeintliche Kluft zu einer Stärke umfunktioniert werden: Generationen sollen in einem dafür geschaffenen Rahmen voneinander lernen und profitieren können. Das gilt für Führungsgremien wie für Teams gleichermassen.

Eine Geschichte aus dem grünen Rucksack
Aufgewachsen bin ich in einem kleinen, idyllischen Kaff namens Küssnacht am Rigi im ziemlich konservativen Kanton Schwyz. Erzogen wurde ich von meiner dänischen Mutter und meinem Berner Vater – sie hatten sich per Zufall kennengelernt, per Zufall ein Kind bekommen und waren per Zufall in diesem kleinen Kaff gelandet. «Alternativ» ist wohl der passendste Ausdruck für meine Familie – mein Vater Steinerschullehrer und meine Mutter Krankenschwester/Homöopathin – und dieses immer irgendwie ein bisschen «anders sein» mein Lebensmotto. Einerseits, weil ich immer irgendwie ein bisschen anders war. Und andererseits, weil ich mich konstant von diesem Anderen angezogen fühlte und heute noch fühle.

Mit den Schweizer Kindern hatte ich immer wenig Gemeinsamkeiten. Da gab’s warmes Mittagessen, Abendessen um sechs, dann wurde geduscht und es ging sicher nicht noch einmal raus zum Spielen. Am Samstag wurde gewandert und sonntags ging man in die Kirche. Gerade mit Mädchen tat ich mir schwer. Still und devot in der Ecke zu sitzen und über Polly Pocket und Pferde nachzudenken, war nie mein Ding. Viel lieber wollte ich mit den Jungs um die Wette rennen, Ameisenhaufen anzünden und Weitspucken üben. Und auch später, als Teenagerin, fand ich es tausendmal spannender, mit Ex-Jugoslawen, Italienern und der einzigen Schwarzen im Dorf um die Häuser zu ziehen und alle möglichen ersten Male auszuprobieren.

Wirklich wohl, wirklich zugehörig, hab ich mich aber nirgends gefühlt. Unter Schweizerinnen und Schweizern war ich immer die Ausländerin, die mit der dänischen Mutter und einer komischen Sprache. Die, die alle duzte, mit allen reden wollte, kein Blatt vor den Mund nahm. Die, die unter den Ausländerinnen und Ausländern halt doch auch anders war: mit guten Noten in der Schule und mit Eltern, die wussten, wo und mit wem ich war und um welche Zeit ich heimkommen würde.

Dieser ewige Spagat zwischen den Welten und Kulturen ist etwas, das mich sehr geprägt hat. Mich fasziniert hat. Oft innerlich zerrissen hat. Mich eben zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ich bin jemand, die Vielfalt braucht. Abwechslung und Veränderung stehen in meiner Bedürfnishierarchie gleich mit Atmung, Wasser, Nahrung und Schlaf. Ich brauche das andere, um mich herauszufordern, mich zu inspirieren, weiterzuentwickeln und mich zu mir selbst zu führen. Im Austausch mit dem Anderen prallen Meinungen, Haltungen und Ideen aufeinander. Es entsteht Reibung. Und Wärme. Und gar Feuerwerk. Das kann unbequem sein. Kann Augenrollen hervorrufen und anstrengend sein. Kann aber auch Dimensionen annehmen, die wir uns nicht mal in unseren wildesten Träumen hätten vorstellen können und zu Erfolgen führen, die weit über alles Bisherige hinausgehen. Das liegt an uns.

Etappe 3: Über die Blumenwiese der Herkunft

Wir essen Avocados aus Mexiko, telefonieren mit Handys aus China und schauen Serien aus den USA: Die Globalisierung gehört längst zu unserem Alltag. Und mit ihr auch die Interaktion zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Überzeugungen – im Quartier, auf dem Spielplatz, im Café und auf der Arbeit. Wer als Organisation im internationalen Wettbewerb also mithalten will, der sollte sich mal besser ernsthaft Gedanken dazu machen, wie mit dieser Wirklichkeit umgegangen wird. Ja, richtig, wir sind bei der Dimension der Herkunft angelangt.

Eines vorweg: Grundsätzlich unterscheiden soziologische Theorien zwischen nationaler und sozialer Herkunft. Während die nationale Herkunft Nationalität, Rasse, Sprache, Kultur und Religion einer Person beschreibt, wird die soziale Herkunft durch wirtschaftliche und/oder bildungsbezogene Merkmale – sprich durch Ressourcen, Bildungsstand, Familie, Wertesystem und Erfahrung geprägt [6]. Alle diese Merkmale machen uns zu dem, was wir sind, was wir denken, wie wir interpretieren, fühlen und uns verhalten. Im Folgenden meint die kulturelle Vielfalt die nationale wie auch soziale Herkunft.

Werfen wir einen Blick auf die Schweiz, müsste man davon ausgehen, dass wir Weltmeister im Umgang mit kultureller Diversität sind: Auf 41 285 Quadratkilometern zählen wir vier offizielle Landessprachen und 26 ziemlich unterschiedliche Kantone. Dazu kommen gemäss Bundesamt für Statistik knapp 200 verschiedene Nationalitäten, fast ein Dutzend weitere Sprachen und mehr als zehn unterschiedliche Religionsgemeinschaften. Jede achte Person mit einem Schweizer Pass verfügt über einen Migrationshintergrund. Vergleicht man aber Studien und folgt man seiner eigenen Erfahrung, so schneiden wir in der Schweiz trotz dieser hohen kulturellen Vielfalt schlecht ab, wenn es um kulturelle Toleranz und Inklusion geht. Laut dem Bundesamt für Statistik nimmt nämlich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung Rassismus als ein gesellschaftliches Problem wahr. [7]

Der Unconscious Bias begegnet uns auch hier wieder: Fremdheitsgefühl und Berührungsängste gegenüber kulturell anderen Menschen sind tief verankert. Und die Frage an uns Führungspersonen ist, wie wir damit umgehen können. Wie schaffen wir es, kulturelle Vielfalt in unserer Arbeitswelt als Vorteil und Chance statt als Herausforderung und Hindernis zu sehen – und zu nutzen?

Spannend ist, dass der Grad an Diversität in Teams eine wichtige Rolle zu spielen scheint: Teilen Personen in homogenen Gruppen Weltanschauung und Wahrnehmung, führt das dazu, dass sie gut miteinander kommunizieren und kooperieren [8]. Fügt man dieser homogenen Gruppe vereinzelt Personen mit einem anderen kulturellen Hintergrund hinzu, entstehen zwei Fronten – eine dominante Innen- und eine «nicht zugehörige» Aussengruppe [9]. Durch diese Teilung entstehen Beziehungskonflikte und Kommunikationsprobleme, was sich negativ auf die Arbeit auswirkt. Sorgt man für eine hohe Diversität, diffundieren diese Gruppen und die Fronten werden aufgebrochen. Das führt zu einer offenen Dynamik, was eine neue, gemeinsame Arbeitskultur schafft, in der man sich statt auf das Anderssein auf die einzelnen Personen fokussiert [10]. Kulturelle Diversität in Unternehmen scheint also ein Grundsatzentscheid: ganz oder gar nicht. In der Praxis ist dies aber nicht ganz einfach, schliesslich besteht die Mehrheit hierzulande immer noch aus Schweizerinnen und Schweizern. Wie also gehen wir als Führungspersonen damit um?

Gemäss Theorien der Interkulturellen Kompetenz kann in einem interkulturellen Kontext ein sogenannter «Dritter Raum» entstehen. In diesem wird die eigene Kultur quasi abgelegt und eine Drittkultur geschaffen. Dabei verhandeln die beteiligten Personen in ständigem Austausch, wie diese neue Kultur auszusehen hat. Die Aufgabe von uns Leadern könnte hiermit sein, die Rahmenbedingungen für einen solchen «Dritten Raum» zu schaffen, indem wir unsere interkulturellen Kompetenzen stärken und auf Fähigkeiten wie Selbstreflexion, Offenheit, Metakommunikation, Toleranz und Aushalten setzen. Das braucht eine Organisation, eine Struktur, viel Verhandlung und viel Moderation.

Mittels Teamentwicklungsmassnahmen können eine neue gemeinsame Wirklichkeit, neue Werte und Normen konstruiert und so die Spielregeln für das Team definiert werden. Die Gehemmtheit anderer Kulturen gegenüber kann nur überwunden werden, wenn wir uns mit uns selber und anderen auseinandersetzen. Weil, wie sagt man so schön: Vorurteile speisen sich aus unterschiedlichen Quellen, selten aber aus tatsächlichen Erlebnissen und Begegnungen.

Eine Geschichte aus dem blauen Rucksack
Ich bin Freigeist und Hobby-Hippie. Verbindungen mit anderen zu knüpfen, fällt mir leicht. Aufgewachsen in einer Welt, in der Inklusion und Diversität Bestandteil des Alltags waren. Ständig unterwegs. Fasziniert von neuen Ideen und Experimenten, gewinne ich Energie daraus, die Vielfalt des Lebens immer wieder von Neuem zu entdecken. Und auch mich selbst.

Weiblich, weiss und 38 Jahre alt, religionslos, aber spirituell breit interessiert. Ich liebe das Kochen, mag Sprachen und Pflanzen, von denen ich mehrere Dutzend beherberge. Ich habe dank dem Beruf meines Vaters (Bildhauer für Grabdenkmäler) früh im Leben verstanden, dass nichts selbstverständlich ist, und bin dankbar für jeden geschenkten Tag.

Ich mag Neues. Und Altes. Zum Beispiel die Menschen in der Firma, für die ich seit bald zwanzig Jahren tätig bin. Ich bin ihnen dankbar, dafür geschätzt zu werden, dass ich anders bin.

Doch auch ich ertappe mich immer wieder dabei, vorschnell zu beurteilen. Hübsche Menschen.

Bankangestellte. Polizist*innen und Beamt*innen. Frauen, die Gewalt über sich oder andere ergehen lassen. Erfahrungsgemäss hat das Leben dann Situationen mit Lektionen für mich bereit, die das Verständnis wachsen lassen. Aha-Erlebnisse. Wie zum Beispiel meine querdenkende, herzensgute beste Freundin, die in einer Bank arbeitet.

Etappe 4: Durch den Wald der sexuellen Orientierung

Bevor wir der Frage nach dem Umgang mit sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität in Unternehmen nachgehen, halten wir folgendes fest: Eine vollständige Gleichstellung auf Verfassungsebene ist für Schwule und Lesben in der Schweiz noch nicht gegeben, Transmenschen sind immer noch mit grossen Schwierigkeiten konfrontiert und ein drittes Geschlecht ist offiziell noch nicht eingeführt. Wenn man diese Fakten in Relation setzt mit der Tatsache, dass das Gleichstellungsgesetz seit 1996 in Kraft ist, kann man sich ausrechnen, dass wir noch einige Auf- und Abstiege vor uns haben.

Positive Impulse im Zusammenhang mit Diversität senden meist internationale Unternehmensberatungen. Laut McKinsey [11] haben Unternehmen, die sich durch einen hohen Grad an Diversität im Top-Management auszeichnen, eine bis zu 21 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Trotzdem wird dem Thema sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in Schweizer Organisationen mehrheitlich kein hoher Stellenwert zugeschrieben. Oft wird der Bedarf gar nicht erkannt oder die Priorisierung wird aus Ressourcengründen gegenüber anderen Diversity-Dimensionen zurückgestellt.

Gesellschaftlich ist die Akzeptanz für die LGBTIQ+-Gruppe zunehmend. Das ist erfreulich, denn selbst wenn explizite Vorurteile hierzulande weitgehend nicht mehr salonfähig sind, ist es schwer, sich von Stereotypen zu verabschieden. Sichtbarmachung ist daher auch auf diesem Gebiet entscheidend, weil wir eher bereit sind, das zu akzeptieren, was wir häufig sehen und folglich für «normal» halten. Ein Beispiel: Die Darstellung homosexueller Charaktere in amerikanischen TV-Angeboten ist in den letzten zehn Jahren von unter zwei auf über sechs Prozent gestiegen. Die unbewussten Vorurteile gegenüber Menschen mit homosexueller Orientierung sind in diesem Zeitraum laut Harvard-Studien um 33 Prozent in Richtung Neutralität gewandert. [12]

Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sind im Gegensatz zu den Merkmalen der anderen Gruppen keine offensichtlichen. Die Vertreter*innen dieser Gruppe sind in Unternehmen kaum messbar und können nicht über Quoten geregelt werden. (Dies würde umso mehr unterstellen, dass es sich um Besonderheiten handelt und so Stereotypen festigen.) Für nicht geoutete Menschen kann das Doppelleben am Arbeitsplatz eine grosse Belastung sein. Informelle Netzwerk-Mechanismen, die oft über wichtige Karriereschritte entscheiden, werden zu unüberwindbaren Hürden. Um dem entgegenzuwirken, haben viele Firmen Verhaltenskodizes eingeführt. Für die Etablierung eines authentisch respektvollen Umgangs braucht es allerdings einen grundsätzlichen Mentalitätswechsel – weg von rigiden Mechanismen der Compliance und Leistungssteuerung hin zu Wertschätzung, Empathie und Vertrauen.

Oh, schaut, ein Regenbogen!

Eine Geschichte aus dem roten Rucksack
Weiblich, weiss, Schweizerin, heterosexuell, politisch links, religionslos, Patchworkfamilie. Weltoffen und engstirnig gleichermassen. Aufgewachsen in einem kleinen, konservativen Kaff, ohne TV, dafür mit vielen Kindern in der Nachbarschaft und einem ganzen Dorf als Spielplatz. Meine Schwester und ich gehörten zu den wenigen Kindern mit Eltern, die sich Arbeit, Betreuungsaufgaben und Haushalt gleichmässig aufteilten. Wie unkonventionell dieses Modell damals war, wurde mir erst viel später bewusst. Aber die Geschichte, die ich an dieser Stelle erzählen möchte, ist eine andere.

Mitte der 90er-Jahre, Höhepunkt des Bosnienkrieges: Viele aus dem Kriegsgebiet geflüchtete Familien fanden in unserem Dorf eine neue Bleibe. Ich erinnere mich an ein Gefühl zwischen Neugierde und Befremdung, zwischen Aufregung und Verunsicherung, das ich empfand, als die neuen Klassenkamerad*innen zu uns stiessen. Noch nie hatte ich Menschen getroffen, die meine Sprache nicht sprachen.

Mirjeta zog mit ihrer Familie und anderen Geflüchteten in das leerstehende Haus mit den zerbrochenen Fensterscheiben, an dem mein Schulweg seit Jahren vorbeiführte. Plötzlich lebte das Haus. Es übte eine hohe Anziehungskraft auf mich aus und gleichzeitig wirkte es befremdend. Bei Mirjeta roch es anders und ihre Familie ass mir unbekanntes Speisen. Ihr Bruder Bekim sah ungewöhnlich aus, ich fürchtete mich vor ihm. Doch Mirjeta setzte sich in der Schule neben mich, wir wurden Freundinnen. Dass man sich auch mit Menschen verständigen kann, deren Sprache man nicht spricht, fand ich aufregend. Monatelang waren wir unzertrennlich, ihre Mutter kochte irgendwann regelmässig für mich mit – und Bekim war eigentlich auch ganz nett.

Zwei Jahre später hatte sich die Situation in ihrer Heimat einigermassen beruhigt. Mir wurde mitgeteilt, dass Mirjeta mit ihrer Familie nun zurück müsse. Sie war inzwischen richtig angekommen, sie wollte nicht gehen. An der Schule und im Dorf sammelten wir Unterschriften für ihr Bleiben. Doch eines Tages war dem grossen Haus jegliches Leben entwichen. Und Mirjeta weg.

Wochenlang fühlte es sich an, als hätte man einen Teil von mir genommen. Zum ersten Mal erlebte ich, dass es eine Rolle spielt, wohin man geboren wird, und dass es irrationale und systemgemachte Unterschiede gibt, wie mit Menschen umgegangen wird. Ich verstand die Welt nicht mehr. Und ehrlich gesagt, ich verstehe sie bis heute nicht.

Etappe 5: Gratwanderung der physischen und psychischen Gesundheit

Sich in der Arbeitswelt zu beweisen, Wertschätzung zu erfahren, soziale Kontakte zu pflegen und so seinen Lebensunterhalt zu verdienen – das ist für jede Person zentral. Menschen mit einer Beeinträchtigung von körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seelischer Gesundheit sind auf dem Arbeitsmarkt jedoch häufig mit schweren Benachteiligungen konfrontiert, insbesondere junge Menschen mit psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen.

Gemäss Bundesamt für Statistik sind nur 72 Prozent der Menschen mit Handicap auf dem Arbeitsmarkt aktiv (gegenüber 85 Prozent bei jenen Personen ohne Beeinträchtigung). Zudem arbeiten sie weit seltener Vollzeit, trotz guter Qualifikationen.

Inclusion Handicap [13], der Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen, fordert deshalb, dass die Arbeitgebenden vermehrt in die Pflicht genommen werden. Womit wir als zukünftige Führungskräfte speziell gefordert sind. Auch wenn das Spektrum möglicher Beeinträchtigungen naturgemäss sehr breit ist, geht es im Wesentlichen jeweils darum, im Betrieb Bedingungen zu schaffen, um die Integration von Menschen mit Handicap zu fördern. Im Falle von körperlichen Beeinträchtigungen können schon bauliche Anpassungen wie Rollstuhlrampen, unterstützende Stühle oder Computer einen grossen Unterschied machen. Schwieriger wird es bei psychischen Erkrankungen, wie Dr. Stephan Böhm, Direktor des Center for Disability and Integration (CDI) der Universität St. Gallen, einräumt: Die Herausforderungen sind in solchen Fällen grösser, da z. B. bei einem Depressionspatienten trotz Behandlung Phasen eintreten können, in denen die Arbeitsleistung nachlässt. [14]

Unabhängig von Art der Beeinträchtigung oder Branche: Als Führungskräfte sollten wir gezielt darauf hinwirken, «mentale Barrieren» abzubauen. Weil viele von uns im Alltag eher selten Kontakt mit Menschen mit Behinderung haben, herrschen oft Vorbehalte, Skepsis und Stigmatisierung vor. Zu einer integrierenden Unternehmenskultur gehört es deshalb, aktiv gegenzusteuern: Teams sensibilisieren und Verständnis schaffen. Unternehmen sollten sich zu verbindlichen Zielvorgaben verpflichten, was die Anstellung von Menschen mit Beeinträchtigung angeht und auf speziell geschulte Integrationsbeauftragte setzen.

Nicht zuletzt geht es darum, das Potenzial in Menschen mit Behinderung zu erkennen und auf ihre Stärken zu setzen. Studien zeigen, dass heterogen zusammengesetzte Teams bei komplexen Aufgaben sogar bessere Leistungen erbringen können als homogene Teams. Menschen mit Handicap bringen oftmals neue Sichtweisen ein und gelten als besonders motivierte sowie loyale Arbeitnehmende. Dies zu erkennen und in die Firmen zu tragen, ist Aufgabe der Führungskräfte von heute und morgen.

Eine Geschichte aus dem farbigen Rucksack
Während der Schulzeit hatte ich nicht das Glück, unter dem Radar zu fliegen. Ich war dick, konnte nicht Fussball spielen und verbrachte meine Ferien in der Klapse, in der meine Eltern arbeiteten. Das allein hätte schon gereicht, um regelmässig die Fresse poliert zu bekommen.

Als meine Familie Anfang der 1990er-Jahre nach Deutschland kam, war ich 16. Mein Deutsch und meine Klamotten waren osteuropäisch und etwas verstaubt. Dazu, ausgerechnet in der konservativen Öde der bayrischen Provinz, musste ich mir eingestehen, auf Männer zu stehen. Schlechte Voraussetzungen, um einen Preis in der Kategorie «Cool Kid» zu gewinnen. Das Beste, was ich daraus machen konnte, war, möglichst unauffällig zu bleiben.

Was aber, wenn Unauffälligkeit keine Option gewesen wäre? Wenn meine Hautfarbe nicht so integrationsfreundlich gewesen wäre? Wenn ich über meine sexuelle Orientierung nicht mit ein paar Ausreden hätte hinwegtäuschen können? Wenn ich statt Fussballspielen nicht kultivierte Hobbys wie Lesen und Reisen hätte angeben können?

Oft kämpfen wir am verbissensten gegen das an, was uns anders macht, das, was nicht der Norm entspricht. Denn mit Normen und Schubladen können wir (und die anderen) grossartig umgehen. Für jede, die wir über Bord werfen, schaffen wir wieder eine neue. Alle, die mal das Gefühl hatten, nicht dazu zu gehören – und sagt jetzt nicht, ihr hättet noch nie das Thema einer Motto-Party verpasst! –, wissen, was es mit einem macht. Diese Erkenntnis ist wichtig, und sie wird noch wichtiger, wenn wir Verantwortung für andere übernehmen.

Ein weiser Mann und Mutter aller Paradiesvögel des Universums hat mal gesagt: «If you can‘t love yourself, how in the hell you gonna love somebody else? Can I get an Amen?»

Amen.

Auf dem Gipfel

Und jetzt? Wir stehen auf dem Gipfel und blicken auf unsere Etappen zurück. Wir haben uns für einen Weg entschieden, der an fünf Dimensionen vorbeiführt. Wir haben gesehen, dass die Kategorien Geschlecht, Alter, Herkunft, Gesundheit und sexuelle Orientierung alle etwas gemeinsam haben: Sie bergen Gründe für irrationales und unbewusstes Ungleichmachen, Kleinmachen, Angstmachen und andersartiges Verhalten in Organisationen. Im Nachhinein wünschen wir uns, wir hätten diese Trennung der einzelnen Dimensionen nicht so sehr in den Vordergrund rücken müssen. Vielmehr sollte das Ziel doch sein, Vielfalt anders zu beschreiben als in starren Dimensionen.

Solange aber die so tief verankerten Stereotypen in unserer Gesellschaft greifen, bleibt uns nichts anderes übrig, als den Umweg über eine Kategorisierung zu nehmen und uns aktiv damit auseinanderzusetzen. Nur so können wir unseren Unconscious Bias begegnen, ihnen bewusst werden und mit Taten korrigierende Erfahrungen ermöglichen. Nur so wird es uns gelingen, vor allem in Menschen statt in Kategorien zu denken.

Mit einer einzigen Wanderung ist es natürlich nicht getan. Diversity-Management ist ein iterativer Prozess und es braucht ein aktives Dranbleiben. Doch mit jeder Auseinandersetzung lassen wir ein paar Stereotypen zurück. In diesem Sinne: Tschüss, ihr Unconscious Bias, ein paar von euch lassen wir hiermit offiziell auf dem Berg!

Der Abstieg zurück in die Stadt gibt uns nun etwas Zeit für eine kurze Reflexion, was wir von unserer Reise in den Arbeitsalltag mitnehmen.

Um eines kommen wir definitiv nicht herum: Die Auseinandersetzung mit Diversität beginnt bei uns selbst. Erst, wenn wir unsere Ängste kennen, können wir unser Verhalten einordnen und mit Ambiguität umgehen. Erst wenn wir uns selbst verstehen, werden wir auch andere verstehen. Nur wenn wir erkennen, dass auch wir voller Vorurteile sind, können wir diese überwinden und Diversität als eine selbstverständliche Dimension des sozialen Miteinanders anerkennen, leben und führen. Dies erfordert Empathie und Fähigkeiten, zu beobachten, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, zu kommunizieren, Konflikte zu lösen und zu reflektieren.

Mit einem gut geführten Diversity-Management kann das Potenzial der Vielfalt erkannt und genutzt werden. Und davon profitieren alle: Mitarbeitende, Organisationen, Wirtschaft und Gesellschaft. Diversity-Abteilungen sind dabei eine grosse Hilfe, doch in die Veränderung zu gehen, ist die Verantwortung von uns, den Führungskräften von heute und morgen. Denn diverse Teams zu bilden ist das eine, sie erfolgreich zu führen das andere. Die amerikanische Diversity-Aktivistin und Unternehmerin Verna Myers bringt es auf den Punkt: «Diversity is being invited to the party, inclusion is being asked to dance.» [15] Konkret: Aktivieren lässt sich das Potenzial von Diversität nur in einer inklusiven Unternehmenskultur, in der Beziehungen und Umgebungen so gestaltet werden, dass sie für alle produktiv, erfüllend und zufriedenstellend sind.

Die gute Nachricht ist, dass sich die Welt heute mit einer Geschwindigkeit verändert, die es gar nicht zulässt, dass wir uns diese Gedanken nicht machen. Die Gesellschaft wird nicht weniger heterogen – im Gegenteil. Und der Vielfalt in der Gesellschaft muss mit Vielfalt in Organisationen begegnet werden. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als uns mit unserer Angst vor dem Fremden auseinanderzusetzen, sie anzunehmen und Schritt für Schritt abzulegen. Dann, wenn wir fähig sind, in diesem Bewusstsein Teams und Organisationen zu führen, wird die Diskussion um Diversity-Kategorien hoffentlich obsolet.

Das Wichtigste dabei: Genauso wie das Aufbrechen zu einer langen, anstrengenden Wanderung ist auch die Auseinandersetzung mit Diversität eine bewusste Wahl. Wir wandern, weil wir uns an der Stille der Natur erfreuen. Weil wir Neues entdecken möchten. Wir nehmen die Anstrengung auf uns, weil wir hoffen, mit einer schönen Aussicht belohnt zu werden. Mit derselben Freude am Neuen und der Lust am Entdecken dürfen und sollen wir auch die Auseinandersetzung mit Diversität beginnen. Lasst uns also vor lauter Dimensionen, verflixten Stereotypen und strukturellen Hindernissen nicht unseren Mut, unsere Kreativität und unsere Leichtigkeit verlieren. Lasst uns einfach mal anfangen. Wie Mark Twain schon sagte: «Das Geheimnis des Vorwärtskommens besteht darin, den ersten Schritt zu tun.»

Und da aller Anfang bekanntlich schwer ist, haben wir zehn Denkanstösse formuliert, die wir euch in Form einer Karte auf die nächste Wanderung mitgeben. Die Tour zu den zehn «Denkplätzen» könnt ihr alleine oder im Team unternehmen. In den Bergen, im Sitzungszimmer oder in Gedanken. Wir möchten euch damit von Herzen ermutigen, die Vielfalt zu lieben und zu leben. Denn: Diversität ist jetzt.

Die Vielfalt der Vielfalt – Manifest (PDF 3.6 MB)

Denkplätze (PDF 1.4 MB)

10 Denkplätze für Führungskräfte und Organisationen

  1. Diversität ist grossartig: Je diverser das Team, desto innovativer und erfolgreicher das Resultat. Oder?
  2. Ohne Toleranz, kein Kranz: Schaffe eine Arbeitskultur, in der ihr offen und respektvoll miteinander umgeht und kommuniziert.
  3. Me, Myself & I: Was ist dein persönlicher Zugang zum Thema Diversität? Denke ruhig in den Dimensionen Geschlecht, Alter, Herkunft, körperliche und geistige Gesundheit und sexuelle Orientierung. Welche Vorurteile und Stereotypen schleppst du in deinem Rucksack mit dir herum?
  4. Reality-Check: Wie divers ist dein Unternehmen? In welchen Dimensionen schneidet ihr nicht gut ab? Was sind die Gründe dafür?
  5. Händer Gender? Setz dich mit den Frauen in deiner Firma zusammen und frag, was sie von dir brauchen, um einen guten Job machen zu können. Setzt gemeinsam Prioritäten.
  6. Old but gold: Lass die Alten und die Jungen darüber nachdenken, was sie voneinander lernen können und schaffe eine Austauschplattform, eine «Exchange University».
  7. Heimat: Lernt euch kennen! Schaffe ein Format, in dem ihr euch untereinander über eure Herkunft austauschen könnt: Wo kommt ihr her? Was macht euch aus?
  8. Let’s talk about sex, baby: ABCLGBTIQ+ – nichts, was es nicht gibt. Und das ist gut so. Schaffe eine inklusive Atmosphäre, indem du offen mit dem Thema umgehst.
  9. Barrierefrei? Nicht Menschen sind behindert, deine Infrastruktur ist es. Überleg dir, wie du Hindernisse abbauen kannst – auch in den Köpfen.
  10. Diversität ist jetzt: Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Sag an, dass Diversität heute beginnt. Und denke diverser. Nun, was denkst du?


Referenzen

[1] Vgl. Hochschule Luzern (2018): Diversity Index Hard Facts zu Soft Factors. Luzern.

[2] Vgl. Carta der Vielfalt: VIELFALT ERKENNEN – Strategien für einen sensiblen Umgang mit unbewussten Vorurteilen. Berlin.

[3] Vgl. Scheer, Olga (2019): Der Frauenanteil in Schweizer Führungsetagen steigt wieder. In: Neue Zürcher Zeitung, 13.6.2019.

[4] Vgl. Bundesamt für Statistik, Sektion Demografie und Migration (2019): Lebenserwartung. Ab- gerufen am 22.4.2019.

[5] Vgl. Bundesamt für Statistik: SAKE in Kürze 2017 – Schweizerische Arbeitskräfteerhebung. Abgerufen am 24.4.2019.

[6] Vgl. Cox, Taylor H. Jr. (1993): Cultural Diversity in Organizations: Theory, Research and Practice. San Francisco

[7] Vgl. Bundesamt für Statistik, Sektion Demografie und Migration (2019): Ausländische Bevölkerung. Abgerufen am 16.6.2019

[8] Vgl. Williams & O’Reilly (1998): Group demography and innovation: Does diversity help?
In: Research on Managing Groups and Teams, Volume 1.

[9] Vgl. Blau, P. M. (1977): Inequality and Heterogeneity A Primitive Theory of Social Structure. Vgl. Earley, P. C., & Mosakowski, E. (2000): Creating hybrid team cultures: An empirical test of transnational team functioning. In: Academy of Management Journal, 43 (1).

[10] Vgl. Earley, P. C., & Mosakowski, E. (2000): Creating hybrid team cultures: An empirical test of transnational team functioning. In: Academy of Management Journal, 43 (1).

[11] Vgl. Hunt, V./Yee, L./Prince, S. and Dixon-Fyle, S. (2017): Delivering through diversity. McKinsey Report, Januar 2018. Abgerufen am 13.6.2019.

[12] Rose, Nico (2019): Wie unbewusste Vorurteile Diversity verhindern. In: Handelsblatt, 6.5.2019. Abgerufen am 13.6.19.

[13] Vgl. Inclusion Handicap – Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz. Abgerufen am 13.6.2019.

[14] Vgl. Universität St. Gallen, Center for Disability and Integration. Abgerufen am 13.6.2019.

[15] Vgl. Vernā Myers Online Diversity and Inclusion Courses. Abgerufen am 13.6.2019.