Leadership Essays 2025

Prompting Diversity. Selbstreflexion mit KI – ein Sprungbrett für Führungskräfte zum konstruktiven Umgang mit Diversität

Von Alexandra Krause, Falko Leonhardt, Laura Rosini, Andrea Stocker, Pascal Tanner und Reto Odermatt

Ein Innovationsprojekt soll der Firma neuen Schwung verleihen. Die Führungsperson macht sich an die Arbeit, stellt ein Team zusammen und das Projekt startet mit viel Elan: Eine junge Kollegin stellt ihre Konzeptidee vor. Begeisterung bei allen. Sie ist schnell, geht mit den neuesten Trends; man merkt sofort, dass die Kollegin digital aufgewachsen ist. Einwände? Keine. Und selbst der Erfahrenste im Team sagt nichts. Schön, dass es so einfach gehen kann. Doch wieso fühlt sich das trotzdem nicht richtig an?

Dieses diffuse Gefühl, dass etwas nicht passt, obwohl eigentlich alles klar erscheint – diese leise Ahnung, dass man sich vielleicht doch nicht so einig ist, wie man es sein könnte, stellt sich in Teams hin und wieder ein. Die Auflösung einer solchen vermeintlichen oder tatsächlichen Uneinigkeit ist eine Leadership-Aufgabe (Führungsaufgabe). In diesem Essay beschäftigen wir uns genau mit dieser Herausforderung. Aus unserer Erfahrung entstehen solch herausfordernde Situationen oft aufgrund von Diversität. Diversität steht dabei für die alltägliche Vielfalt von Perspektiven, Erfahrungen und Kommunikationsformen in der Zusammenarbeit. Der Umgang mit Diversität stellt Führungspersonen vor eine komplexe Aufgabe: Sie sollen Vielfalt so gestalten und lenken, dass sie konstruktiv nutzbar wird und Spannungen überwunden werden können. Das braucht einen wachen Blick sowie gute Fähigkeiten in der Analyse und im Anleiten von Mitarbeitenden. Doch oftmals ist die Situation zusätzlich herausfordernd: Sind Führungskräfte Teil des Teams, beginnt die Reflexion bei ihnen selbst und schliesst eine Auseinandersetzung mit der eigenen Position im Team ein.

Oftmals wäre es hilfreich, sich mit einer unabhängigen Person auszutauschen und so einen Aussenblick zu erhalten. Doch nicht immer steht eine solche Person zur Verfügung. Wir prüfen, ob Künstliche Intelligenz (KI) in diesem Zusammenhang einen Mehrwert bieten kann und gehen deshalb der Frage nach:

Kann KI Führungspersonen helfen, schwierige Situationen und Spannungen innerhalb eines diversen Teams zu verstehen und die eigene Rolle im Gefüge zu hinterfragen?

Im Rahmen dieses Essays stellen wir Autor:innen einen Ansatz vor, um diese Herausforderung besser meistern zu können. Dazu entwickeln wir mit dem DIVERS-Kompass ein praxisorientiertes Reflexionsinstrument, das genutzt werden kann, um Abstand zur eigenen Situation zu gewinnen.

Diversität: Was steckt hinter dem Buzzword?

Der Ausdruck Diversität wird heute viel bemüht. Für die politische Rechte ist die diverse Gesellschaft ein woker Kampfbegriff, für die Linke das erstrebenswerte gesellschaftliche Miteinander aller. Wenn wir also von Diversität im Arbeitskontext sprechen, braucht es ein klares Verständnis davon, was Diversität ist und wie sie im Arbeitsalltag wirkt. Ganz grob gefasst, lassen sich zwei Verwendungsweisen unterscheiden. Einerseits ist Diversität ein aufgeladener Begriff, der auf strukturelle Diskriminierung, Machtungleichgewichte und gesellschaftliche Ausschlussmechanismen aufmerksam macht. Andererseits bezeichnet er ein alltägliches Phänomen: die Vielfalt menschlicher Perspektiven, Erfahrungen und Identitäten, wie sie in jeder sozialen Interaktion zum Tragen kommt.

In Organisationen sind beide Bedeutungsweisen anzutreffen. Diversität als politisch aufgeladener Konfliktbegriff betrifft in erster Linie die strategische Ebene. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktion von Adidas auf die Black-Lives-Matter-Bewegung im Jahr 2020: Das Unternehmen verpflichtete sich damals, bis 2025 mindestens 30 % der neu zu besetzenden Stellen in den USA mit Menschen zu besetzen, die durch ihre Hautfarbe und Herkunft benachteiligt sind, und investierte gezielt in Programme zur Förderung von Gleichstellung und Antirassismus. Solche Massnahmen zeigen, wie Diversität auf strategischer Ebene verhandelt wird – mit direkten Auswirkungen auf Personalstrategie, Kommunikation und Unternehmenswerte. Im Unterschied dazu zeigt sich Diversität im Alltag vieler Teams weniger konfrontativ, sondern als Frage der praktischen Gestaltung ihrer Arbeit: in der Zusammenarbeit innerhalb von Teams, im Kontakt mit Kund:innen oder in der Interaktion mit Partnerorganisationen. Im Rahmen dieses Essays interessieren wir uns für den Alltag und seine Herausforderungen.

Spannungen sind Ressource und Herausforderung zugleich

Unterschiedliche Perspektiven fördern kreative Prozesse und Innovation, sagt die Theorie. Entsprechend ist ein heterogen zusammengestelltes Team ideal für Innovationsprojekte, denn unterschiedliche Wahrnehmungen und Perspektiven auf die gleiche Sache entstehen in diversen Gruppen von allein. Studien zeigen, dass Teams, die konstruktiv mit Meinungsverschiedenheiten umgehen, langfristig resilienter und innovativer arbeiten – vorausgesetzt, die Spannungen werden nicht unterdrückt, sondern reflektiert bearbeitet. Der Organisationsforscher Dean Tjosvold spricht in diesem Zusammenhang von «kreativen Konflikten»: Gemeint sind produktive Reibungen, die zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen führen und neue Ideen und Lösungsansätze provozieren. Das wird in der heutigen Welt immer wichtiger. Komplexe Herausforderungen, wie sie in der digitalen Transformation oder in dynamischen Innovationsprozessen auftreten, lassen sich am besten lösen, indem sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Es hilft, blinde Flecken zu vermeiden und inklusivere Ergebnisse zu erzielen. Doch jede Führungsperson weiss: So einfach ist es nicht. Als Führungsperson oder Projektleiter:in findet man sich immer wieder in Situationen, in denen es im Offensichtlichen oder Verborgenen harzt.

Die Gründe dieser Spannungen sind vielfältig: In interdisziplinären Teams reden Fachexpert:innen oft aneinander vorbei. Extrovertierte dominieren die Gespräche, und jüngere oder ältere Kolleg:innen haben angeblich «die Welt halt nicht begriffen». Jede:r bringt die eigene Persönlichkeit, eigene Erfahrungen und einen individuellen Blickwinkel mit. Unterschiedliche Kommunikationsstile, Wertvorstellungen oder Erwartungen können Anlass zu Missverständnissen, Reibungsverlusten oder Spannungen geben.

Wie ermöglicht man einen Austausch, der von diversen Perspektiven getragen ist? Wie lassen sich Unterschiede und Spannungen im Sinne des kreativen Prozesses nutzen? Dies sind die Fragen, mit denen man in leitenden Rollen konfrontiert ist.

Effektive Führungskräfte managen Diversität

Damit Zusammenarbeit gelingt, braucht es Menschen, die den Überblick behalten und Verantwortung übernehmen: Führungspersonen. Es ist eine ihrer zentralen Aufgaben, Orientierung zu geben, Austausch zu fördern und Zusammenarbeit zu ermöglichen. Sie regen den Dialog zwischen verschiedenen Sichtweisen an, helfen bei Spannungen und sorgen dafür, dass alle am gleichen Strang ziehen. So schaffen sie die Bedingungen, unter denen Diversität ihr Potenzial entfalten kann. Möchte man Führung vor dem Hintergrund eines Designverständnisses verstehen, in den auch unser CAS eingebettet ist, ist diese Fähigkeit übrigens ein wichtiger Aspekt – vor allem dann, wenn Teams mit komplexen, dynamischen und vielfältigen Herausforderungen umgehen müssen.

Eine zentrale Herausforderung von Führung im Umgang mit Diversität besteht darin, dass Leader:innen (Führungskräfte) selbst Teil des Teams sind. Sie bringen ihre eigenen Perspektiven, Erfahrungen und Interessen ein und gestalten gleichzeitig die Bedingungen für Zusammenarbeit. Leadership erfordert daher eine bewusste Balance zwischen Beteiligung und Reflexion, zwischen Nähe und Steuerung. Es geht darum, das eigene Involviertsein zu erkennen, situativ die Perspektive zu wechseln und gezielt Impulse zu setzen. Gerade in komplexen oder konflikthaften Situationen braucht es dafür Selbstaufmerksamkeit, Rollenklarheit und Raum zur Reflexion. Nur so lassen sich Dynamiken verstehen, das eigene Handeln einordnen und die Wirksamkeit eines Teams aufrechterhalten.

Reflektieren mit KI: Neue Denkanstösse auf Knopfdruck

Grundsätzlich stehen Leader:innen unterschiedliche Wege offen, um gut zu reflektieren – etwa durch professionelles Coaching, informelle Gespräche mit vertrauten Kolleg:innen, persönliche Introspektion oder das Führen eines Reflexionstagebuchs. Die Idee, mit einer KI zu reflektieren, mag zunächst ungewöhnlich scheinen, birgt aber ebenfalls Potenzial. Eine Reihe von Pro-Argumenten sticht ins Auge: Einige ergeben sich schon daraus, dass KI als Maschine nicht in persönlicher Beziehung zu den Involvierten steht. Schildert man ihr eine Situation aus dem Arbeitskontext, wird die KI nicht versuchen, einen eigenen Vorteil aus der Antwort zu ziehen. Genauso wenig unterliegt sie dem sozialen Zwang, erwünschtes Verhalten zu zeigen. Darüber hinaus besteht gegenüber KI keine Notwendigkeit, das eigene Verhalten in der Schilderung einer Situation zu beschönigen, um verurteilende Bewertungen zu vermeiden. Ausserdem steht KI im Gegensatz zu Coach:innen, Vorgesetzten und Partner:innen rund um die Uhr zu Verfügung, um Antworten dann zu bieten, wenn sie am meisten benötigt werden. Und zu guter Letzt ist jede Zweitmeinung, die man einholt, zumindest in Teilen divers zur eigenen und bietet neue Perspektiven, auch eine «künstliche». In diesem Sinne kann KI ein Reflexionsraum sein, der Führungskräften hilft, ihre Rolle im Team, Spannungsfelder und blinde Flecken differenzierter zu erkennen und gezielter zu handeln.

Klingen die Pro-Argumente auch nachvollziehbar und schlüssig, so warnen Akteur:innen wie die Rechtanwaltsgemeinschaft activeMind.legal vor der vermeintlichen Neutralität von Künstlicher Intelligenz – denn Trainingsdaten können veraltete Weltbilder, ethisch falsches Verhalten oder Klischees gegenüber einzelnen Menschen oder Gruppen enthalten. Dies zeigt sich dann auch in den Antworten von KI. Ein weiteres, bekanntes Problem besteht darin, dass beispielsweise ChatGPT dazu neigt, Nutzende mit Schmeicheleien bei irrationalen Einschätzungen zu bestärken. Ob und welche Verzerrungen vorliegen, ist KI-Modellen von aussen wahrlich nicht anzusehen. All diese Punkte fallen besonders ins Gewicht, da laut Ernst-&-Young-Experte David Alich nur jede:r Vierte Arbeitsergebnisse von Künstlicher Intelligenz hinterfrage, sobald er eine Applikation nutzt. Dies zeige einen zu sorglosen Umgang mit KI.

Unter dem Strich zeigt sich damit: Wenn man die Gefahren und Bias im Auge behält, dann steckt in KI-Anwendungen ein Potenzial, das auf jeden Fall zur Reflexion genutzt werden sollte. Diesen Glaubenssatz stellen wir zum Test und nutzen KI in diesem Essay, um herausfordernde Leadership-Situationen zu reflektieren. Da ChatGPT im Moment als erster breit verfügbarer Anbieter Pioniervorteile geniesst und intensiv genutzt wird, wählen wir ChatGPT für unsere Exploration.

Gelungene Reflexion in fünf Phasen

Methodisch gestützte Reflexionsmodelle helfen, in anspruchsvollen Situationen den Überblick zu behalten und gezielt zu handeln. Deshalb wollen wir auch in der Reflexion mit KI auf Reflexionsmodelle setzen. Im Folgenden stellen wir ein Selbstreflexionsinstrument vor, das wir auf Basis zweier bewährter Modelle – dem Reflexionszyklus von Graham Gibbs und dem 4R-Modell von Lennick und Wachendorfer (Abb. 1) – entwickelt haben. Ziel war es, diese theoretischen Ansätze weiterzudenken und ergänzt mit eigenen Erfahrungen zu einem praxisnahen Reflexionsinstrument zu verschmelzen, das passgenau auf unsere Thematik zugeschnitten ist und Führungskräften im Umgang mit Diversität eine Stütze sein kann.

Die Grundlage bildet der Reflexionszyklus von Graham Gibbs. Dieses strukturierte Modell fördert Lernprozesse durch gezielte Reflexion und eignet sich besonders, wenn nicht nur das Was, sondern auch das Warum und Wie des eigenen Handelns im Zentrum stehen. Der Zyklus umfasst sechs aufeinanderfolgende Phasen: Beschreibung, Gefühle, Evaluation, Analyse, Schlussfolgerung und Konsequenzen. Ergänzend dazu bietet das 4R-Modell von Lennick und Wachendorfer eine handlungs- und werteorientierte Perspektive auf Entscheidungsprozesse. Es basiert auf den vier Schritten Erkennen, Reflektieren, Einordnen und Reagieren und hilft dabei, wertebasiert zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.

Das daraus abgeleitete Instrument strukturiert die praxisorientierte Selbstreflexion in fünf aufeinanderfolgende Phasen:

  1. Verstehen – Was ist passiert?
    Die erste Phase dient der neutralen Beschreibung einer Situation. Es geht darum, den konkreten Kontext, beteiligte Personen und die äusseren Bedingungen zu erfassen, ohne sofort zu bewerten.
  2. Innenperspektive – Wie habe ich mich gefühlt?
    Hier stehen persönliche Reaktionen im Mittelpunkt: Gedanken, Emotionen und körperliche Reaktionen. Diese Selbstwahrnehmung schafft Zugang zur persönlichen Wahrnehmung.
  3. Bewertung & Bedeutung – Was war gut und schwierig?
    Diese Phase widmet sich der kritischen Bewertung der Situation. Positive wie auch herausfordernde Aspekte werden beleuchtet. Zusätzlich wird versucht, die Situation neu zu deuten.
  4. Reflexion anderer Perspektiven – Was sehen andere?
    Hier findet der gezielte Perspektivwechsel statt. Durch das Einfühlen in andere Sichtweisen entsteht ein umfassendes Bild der Situation. Dies erweitert das Verständnis und hilft, versteckte Motive oder Dynamiken zu erkennen.
  5. Handlung – Was lerne ich daraus? Was mache ich in Zukunft anders?
    Die letzte Phase leitet aus den Erkenntnissen konkrete Konsequenzen für zukünftiges Verhalten ab. Es geht um Lösungsorientierung, persönliche Weiterentwicklung und einen konstruktiven Umgang mit Diversität.

Das Selbstreflexionsinstrument stiftet Orientierung in Führungssituationen mit Diversitätsherausforderungen. Wir nennen es daher DIVERS-Kompass (Abb. 2). Es unterstützt dabei, komplexe Situationen und Arbeitsumgebungen systematisch zu analysieren und daraus handlungsrelevante Erkenntnisse abzuleiten. Ziel ist es, das Spannungsfeld von Diversität nicht nur zu bewältigen, sondern als Potenzial für Entwicklung, Innovation und Teamzusammenhalt nutzbar zu machen.

Im weiteren Verlauf dieses Essays zeigen wir auf, wie die fünf Reflexionsphasen konkret im Zusammenspiel mit KI angewendet werden können – und ob der Dialog mit ChatGPT dabei einen echten Mehrwert bietet.

Der Praxistest: Wie hilfreich ist ChatGPT in der realen Selbstreflexion?

Wir haben viele Prompts und Tests gemacht, ChatGPT mit dem DIVERS-Kompass geframed und Beispiele aus unserem Arbeitsalltag in die Welt von Transformer-Architekturen, Tokenisierung und Modell-Iterationen übertragen. Um den DIVERS-Kompass praktisch einsetzbar zu machen, wurde er im Rahmen der Tests als Cheat Sheet aufbereitet (Abb. 3) und genutzt.

Download: DIVERS-Kompasses (PDF, 281KB)

Der Test zeigt: ChatGPT kann dabei helfen, die eigene Sicht zu ordnen und gleichzeitig die Perspektiven anderer besser zu verstehen. Besonders hilfreich sind die Zusammenfassungen der eigenen Aussagen – oft leicht umformuliert, wodurch sich neue Einsichten ergeben. Auf diese Weise lässt sich die eigene Haltung besser erkennen und einordnen. Mitunter werden dabei auch unbewusste eigene Denkmuster sichtbar. ChatGPT begegnet Nutzenden durchweg wohlwollend und einfühlsam. Das schafft Vertrauen – und stärkt das Bewusstsein für die eigene Wahrnehmung.

Gerade diese freundliche Grundhaltung wirft allerdings Fragen auf: Wie kritisch müssen Reflexionspartner:innen eigentlich sein, um echtes Wachstum zu ermöglichen? Und welche Rolle kann oder sollte eine Maschine in der Reflexion übernehmen? Wer auf eine ehrliche Konfrontation hofft, wird bei ChatGPT nur bedingt fündig. Zwar stellt die KI Fragen und gibt Denkanstösse, liefert aber selten direkte Gegenpositionen. Das liegt auch daran, wie sie genutzt wird: ChatGPT reagiert auf die Eingaben – entsprechend lassen sich gezielte Prompts formulieren, um auch kritische Perspektiven einzufordern. Die Eingabe «Ich möchte, dass du meine Sichtweisen kritisch hinterfragst» hat sich als besonders wirksam erwiesen. Das macht deutlich, wie entscheidend die bewusste und präzise Formulierung der Fragestellung ist. Die Zurückhaltung in der Konfrontation kann entlastend wirken – aber auch einschränkend.

Gleichzeitig bringt ChatGPT auf eigene Initiative hin bekannte Denkmodelle ein oder reagiert auf vorgegebene Strukturen. Damit regt die KI zu Perspektivwechseln an und hilft, festgefahrene Denkmuster zu hinterfragen. Im Rahmen des Praxistests stellte sich dabei auch eine grundlegende Frage: Braucht es überhaupt ein Reflexionsmodell, wenn ChatGPT bereits so gute Fragen stellt? Die Antwort darauf lautet: Ja und Nein. Ohne Struktur wird der Reflexionsprozess schnell diffus. Doch ein zu starres Modell kann individuelle Zugänge blockieren. Unsere Tests zeigen: Es kann durchaus sinnvoll sein, etwa das von ChatGPT vorgeschlagene Hand-Kopf-Herz-Dreieck als kontextuellen Rahmen in Prompts aufzunehmen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass dadurch andere Ansätze ausgeblendet werden. Entscheidend ist die Balance: Ein klarer Rahmen – wie der DIVERS-Kompass – bietet Orientierung, während ChatGPT für Dynamik und Flexibilität sorgt. So bleibt die Reflexion lebendig.

Darüber hinaus zeigt sich: ChatGPT stellt gezielte Fragen zur Teamkultur oder zu impliziten Vereinbarungen und hilft so, blinde Flecken aufzudecken. Gleichzeitig kann die Fülle an Impulsen überfordern: Fragen, Ideen und Vorschläge prasseln teils ungefiltert auf die Nutzenden ein – ein Feuerwerk, das sortiert werden will. In der Praxis hat es sich bewährt, ChatGPT ausdrücklich aufzufordern, Schritt für Schritt durch die einzelnen Reflexionsphasen zu führen. So bleibt der Prozess nachvollziehbar.

Einordnung der Testergebnisse: KI ist ein wertvoller Impuls

Die Auseinandersetzung mit ChatGPT als Reflexionspartner:in hat gezeigt, dass KI einen Beitrag zur Führung in diversen Teams leisten kann – allerdings nicht als Ersatz, sondern als sinnvolle Ergänzung zu menschlicher Reflexion. Sie bietet neue Perspektiven, hilft bei der Strukturierung komplexer Situationen und kann Denkprozesse in Gang setzen, die sonst womöglich ausbleiben würden. Dabei wurde deutlich: Der wahre Mehrwert liegt nicht in der Objektivität oder gar Wahrheit der KI-Antworten, sondern in der Art und Weise, wie der Mensch mit ihnen umgeht. Der DIVERS-Kompass hat sich als hilfreicher Rahmen erwiesen, um die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz strukturierend in eine sinnvolle Ordnung zu bringen und die eigene Selbstreflexion anzuleiten. Gerade in anspruchsvollen Führungssituationen, in denen Spannungen aufbrechen und die eigene Rolle verschwimmt, kann diese Kombination Orientierung geben.

Zugleich wurden auch die Grenzen der Technologie sichtbar: Ihre Freundlichkeit kann zur Bestätigung verzerrter Wahrnehmungen führen. Ihre scheinbare Neutralität kaschiert die in den Trainingsdaten gespeicherten Biases. Und das Fehlen menschlicher Resonanz zeigt deutlich: Für echte Empathie, für zwischenmenschliches Verstehen und für das gemeinsame Aushalten von Unsicherheit bleibt der Mensch unersetzlich. Besonders im Kontext von Diversität, wo nicht nur rationale Argumente, sondern emotionale Sicherheit, kulturelle Sensibilität und das Vertrauen in den gemeinsamen Prozess zählen, braucht es weiterhin Führungskräfte, die zuhören, spüren und zwischen den Zeilen lesen können.

Bei aller Offenheit gegenüber der Interaktion zwischen Menschen und Maschinen bleibt die Auseinandersetzung leblos. Ein menschliches Gegenüber liefert mehr als verbale Antworten – es zeigt auch nonverbal Verständnis und Anteilnahme. Gemäss Turing-Test ist KI dann gegeben, wenn ihre sprachlichen Reaktionen von jenen eines Menschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Doch genau hier liegt die Grenze: Menschen verfügen über ein feines Sensorium für Zwischentöne, und beim Chat mit einer KI bleiben viele Sinnesebenen – etwa Mimik, Gestik, Stimme oder Atmosphäre – unberührt. Frei nach dieser Testanordnung könnte man also sagen, dass wir vor einem «Turing-Problem» stehen: Auch wenn die Sprache überzeugt, fehlt die zwischenmenschliche Resonanz. In gewissen Situationen kann es mehr entlasten, gemeinsam zu schweigen als zu sprechen. Gerade bei engen Vertrauten kann zudem auf vergangene Beobachtungen zurückgegriffen und das Verhalten der Reflektierten auch ohne Dateninput eingeordnet werden.

Die Tests zeigen klar: Die Verantwortung für die Tiefe und Richtung der Reflexion bleibt beim Menschen. Nur mit präzisen Fragen gelingt es, das Potential der KI als Impulsgeberin voll auszuschöpfen. Unsere Erfahrungen zeigen zudem, dass die Qualität der Reflexion stark davon abhängt, wie gut die Fragen formuliert sind und wie bewusst der Dialog gesteuert wird. Unklare oder vage Formulierungen führen zu allgemeinen, oft oberflächlichen Antworten. ChatGPT ist also kein Allzweckmittel, sondern ein Werkzeug, dessen Wirkung direkt von seinen Nutzer:innen abhängt.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten:

Das kann KIDas kann KI nicht
– Sprachlich überzeugend kommunizieren

– Selbstreflexion anstossen
und lenken

– Neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen

– Komplexe Situationen
strukturieren

– Zugang zu neuen Perspektiven schaffen

– Denkprozesse auslösen

– Mit Hilfsmodellen (z. B. DIVERS-Kompass) kombiniert Reflexionsprozesse begleiten
– Zwischenmenschliche Resonanz erzeugen

– Empathie empfinden oder vermitteln

– Kulturelle Sensibilität und emotionale Sicherheit schaffen

– Vergangenes Verhalten kontextuell deuten ohne Input

– Verantwortung übernehmen oder moralisch urteilen

– Unverfälscht objektiv sein
Führung übernehmen



Fazit: Mensch bleiben in der Reflexion mit Maschinen

In der Nutzung von KI zur Reflexion liegt eine paradoxe Chance: Sie funktioniert am besten dort, wo Menschen bereits wachsam, bewusst und bereit zur Selbstbefragung sind. Wer sich selbst nicht hinterfragt, wird auch aus den besten Antworten von KI keine Erkenntnisse ziehen. Wer sich hingegen als Lernende:r versteht, entdeckt in der Maschine einen Spiegel – nicht perfekt, nicht vollständig, aber oft überraschend erhellend.

In einer Arbeitswelt, die zunehmend von Komplexität, Tempo und kultureller Vielfalt geprägt ist, reicht es nicht mehr aus, «richtig» zu führen. Es geht darum, Führung neu zu denken: als gestaltende Beziehung, als kontinuierliche Selbstreflexion – und als Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen. KI kann ein Teil davon sein. Sie macht Führung nicht einfacher, aber sie macht sie sichtbar – als Prozess zwischen Menschen, Maschinen und Möglichkeiten.

Die entscheidende Frage lautet nicht, wie sehr wir die Maschine beherrschen, sondern wie sehr wir bereit sind, uns selbst durch sie herausfordern zu lassen. Sind wir mutig genug, im Spiegel der KI auch unsere eigenen Grenzen zu erkennen?


Quellen

activeMind.legal (o. D.). Bias bei Künstlicher Intelligenz: Warum Algorithmen diskriminieren können. https://www.activemind.legal/de/guides/bias-ki/

adidas AG (2021). Diversity and Inclusion. In Annual Report 2020. https://report.adidas-group.com/2020/en/group-management-report-our-company/our-people/diversity-and-inclusion.html

Lennick, D., & Wachendorfer, C. (2023, April 12). The 4 R’s of making good decisions. SmartBrief. https://www.smartbrief.com/original/the-4-rs-good-decisions

Lennick, D., & Wachendorfer, C. (2023). Don’t wait for someone else to fix it: Eight essentials to enhance your leadership impact at work, home, and anywhere else that needs you. Wiley.

ARD (Hrsg.). (2025, Mai 4). Studie: Blindes Vertrauen in KI: Viele Nutzer hinterfragen ChatGPT nicht. tagesschau.de. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/ki-blindes-vertrauen-100.html

Tjosvold, D. (2007). The conflict-positive organization: it depends upon us. Journal of Organizational Behavior, 29, 19–28. https://doi.org/10.1002/job.473

Turing, A. M. (1950). Computing machinery and intelligence. Mind, 59 (236), 433–460. https://doi.org/10.1093/mind/LIX.236.433

University of Edinburgh (n.d.). Gibbs› reflective cycle: Reflection toolkit. https://www.ed.ac.uk/reflection/reflectors-toolkit/reflecting-on-experience/gibbs-reflective-cycle

Hinweis zur Verwendung von Künstlicher Intelligenz
Im Sinne der hinterfragenden Neugier, wie sie im Positionspapier der ZHdK empfohlen wird, haben wir KI nicht als Orakel, sondern als Sparringpartner:in eingesetzt – mit Neugier, Reflexionslust und einer gesunden Portion Skepsis. Konkret kam generative KI in drei Rollen zum Einsatz: 1. als strukturierende Kraft zu Beginn – nicht als Architekt:in des Textes, aber doch hilfreiche Innenarchitekt:in beim Aufstellen der konzeptionellen Wände. 2. als fleissige:r Stil- und Sprachassistent:in, insbesondere zur Glättung und Schärfung der Textoberfläche – quasi unser sprachlicher Feinschliff im digitalen Gewand. Und 3. als Testumgebung für unser Reflexionsmodell – gewissermassen ein Probedurchlauf mit einer Partner:in, die nie müde wird zu antworten. Dabei haben wir die Empfehlungen des ZHdK-Merkblatts zur KI-Nutzung (Stand: 06.03.2024) konsequent beachtet – insbesondere hinsichtlich Urheberrecht, Datenschutz und Transparenz.