Wirkung der Einführung von Holacracy bei Liip
Benoît Pointet, Holacracy Coach Liip
Mit fünf Standorten von Lausanne bis St. Gallen, baut Liip, eine der führenden Schweizer Digital Agenturen, Brücken zwischen zwei Sprach- und Kulturräumen. Liip funktioniert seit 2016 mit dem organisatorischen Operating System Holacracy®. Seit ihrer Gründung stand die Firma für starke Werte und ein grosses Engagement, für eine praktizierte Ethik sowie für das Mitspracherecht aller Mitarbeitenden. Die Einführung von Holocracy hatte starke und tiefgreifende Auswirkungen auf Strategie, Struktur, Kultur und Personalentwicklung. Liip bewegt und entwickelt sich seither schneller denn je.
Der Weg zu Holokratie
Funktionsübergreifende Teams
Wie in der IT-Branche sind bei Liip hohe Anforderungen an die Innovationsfähigkeit des Unternehmens die Norm. In der Agenturwelt gibt es zudem weitere organisatorische Anforderungen, die aus der Projektarbeit mit der jeweiligen Kunden-Organisation und Partnern resultieren. Aus diesem Grund übertrug das damalige Management von Liip 2013 einen Grossteil der Verantwortung den Teams. Dazu wurden diese multifunktional aufgestellt, dem Spotify-Modell folgend. Alle Teams hatten alle nötigen Ressourcen und Kompetenzen zur Erledigung der täglichen Arbeit an Bord. Ausgenommen waren eine Handvoll übergreifende Abteilungen wie HR, Finanzen und Kommunikation – sie standen den Teams beratend zur Seite. Über die Strategie, Kundenakquise, eingesetzte Technologien und die Anstellung neuer Mitarbeitenden entschieden die Teams aber selbst. Hierbei galten drei Grundsätze als Top-Down-Kernbotschaften: glückliche Kunden, glückliche Mitarbeitende und die finanzielle Gesundheit des Unternehmens. Durch die unklare Regelung dieser übergreifenden Funktionen wurden diese zu Managementfunktionen, was wiederum zu Kommunikationsproblemen führte. Viele Mitarbeitende erwarteten vom Management – trotz weitreichender Selbstbestimmung – gewisse Entscheidungen, die das Management aber gar nicht in seiner Verantwortung sah. Umgekehrt fühlten sich die Teams durch die Entscheidungen des Managements oder durch die übergreifenden Abteilungen und ihre Funktionen eingeschränkt.
Prozess-Agilität
Ein weiteres Kernelement der damaligen Organisation war das Framework Scrum. 2009 zunächst für Kundenprojekte eingeführt, wurde es bald auch für administrative und organisatorische Prozessen verwendet. Dieses hausgemachte Governance-System (Scrum + Cross-funktionale Teams + Partners) funktionierte für einige Jahre, bis es zu einengend war.
Wachstumsdruck
Handlungsbedarf entstand vor allem durch das starke Wachstum des Unternehmens. Das bisherige System mit den oben bezeichneten flachen Hierarchien skalierte nicht mehr. Konstante Windungen und Verletzungen des Systems waren nötig. Die Effizienz war nicht mehr zutreffend.
Lösungsfindung
Ende 2015 war der Fall klar: Eine organisatorische Evolution war nötig. Diese musste die DNA der Organisation – Agilität, Autonomie und flache Hierarchien – respektieren und ein gesundes Wachstum ermöglichen. Doch Lösungen, die zu mehr Hierarchie oder zu einem grösseren Management-Team führten, waren unerwünscht. Auf der Suche nach einem neuen System lieferte das Buch «Reinventing Organizations» von Frédéric Laloux viel Inspiration. Das erste Mal war die Rede von Holacracy. Holacracy bot mehrere reizvolle Elemente: klare und deutliche Spielregeln in einer Verfassung zusammengefasst, Open Source, Skalierbarkeit, Maturität. Für Liip war wichtig, dass es eine fertige Lösung bot, um das Not-invented-here-Syndrom zu vermeiden.
Wirkung auf allen Ebenen
Drei Jahre später sind alle einverstanden: Die Adoption von Holacracy hat definitiv Wirkung gezeigt.
Absolute Transparenz
Holacracy fördert eine starke, aber wandelbare Struktur. Diese Struktur schafft die Grundlage für Transparenz und hilft bei der Vermeidung von Doppelspurigkeiten. Jeder weiss, was von einer Rolle erwartet werden kann und was es in welcher Rolle zu tun gibt. Ist etwas unklar, kann es im Governance-Prozess geklärt und verändert werden. Verantwortlichkeiten schaffen aber noch keine totale Transparenz. Der Vorstoss zu höherer Transparenz ist ähnlich wie Zwiebeln schälen: Jede neue Klärung zeigt eine neue Schattenzone auf. Informationen, Finanzzahlen, Saläre usw. bilden diese Schalen. Die innere Transparenz macht auch eine äussere Transparenz erforderlich. Diese wiederum wurde bereits durch die Scrum-Prozesse und durch agile Verträge gefördert.
Fluide Weiterentwicklung der Organisation
Liip brauchte Struktur, aber eben keine starre Struktur, sondern eine Struktur, die sich den Gegebenheiten anpasst. Und diesen Nutzen schafft der Holacracy-Governance-Prozess.
Anstelle einer grossen Reorganisation verfeinern die Teams ihr inneres System iterativ. Kontinuierliche Anpassungen der Zusammenarbeit werden durch Konsententscheide gesteuert.
Abb. 1: Struktur der Liip AG, jederzeit sichtbar für alle Mitarbeiter
Beschleunigung der Operationen
Das Management wird nicht mehr zum Flaschenhals bei Entscheidungen. Jeder kann Entscheidungen treffen, solang diese der Rolle dienen. Diese grosse – für einige einschüchternde – Freiheit kommt aber mit einem Beratungsprozess: «Seek advice from the impacted and experienced ones, and decide on your own», heisst es. Auch das gemeinsame Entscheiden wurde radikal geändert: Der Konsent-Entscheidungs-Prozess garantiert, dass Entscheidungen, auch ausserhalb der Komfortzone oder der Präferenzen vorheriger Manager getroffen werden.
Abb. 2: Konsent und Konsens: Wie viele Gemeinsamkeiten bestehen?
Intrapreneurship und experimentierfreudiges Mindset
Auch hier gibt es radikale Unterschiede. Das Wachstum, welches bis 2016 stattfand, kann unter dem Motto «More of the same» zusammengefasst werden. Seit 18 Monaten jedoch gibt es mehr Dienstleistungsinitiativen als je zuvor, basierend auf der Eigeninitiative einzelner Mitarbeitender. Die experimentierfreudige Denkweise ist jetzt verankert: Pilotversuche und andere «kleine, aber feine» Experimente sind heutzutage bei Liip die Regel.
Selbstführung
Selbstorganisation erfordert Leadership auf allen Ebenen und viel Selbstkompetenz von jedem Einzelnen. Den Chef als Sicherheitsnetz gibt es nicht mehr. Doch nur weil der Mitarbeitende plötzlich theoretisch alles darf, sollte dieser nicht alles machen. Jeder muss seine eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen können und unternehmerisch denken. Davon rührt die Sehnsucht nach persönlicher Entwicklung und Social-Skills-Trainings. Selbstleadership heisst auch, das Nörgeln und Opfer-Mindset draussen zu lassen. «Keep calm and process your tensions» heisst das neue Motto. Kaum ein Problem ist unlösbar, auch aufgrund der offenen Autoritätsstruktur.
Grundsätze als Kompass
Langfristige Planung macht in einer Digital Agentur wenig Sinn. Wie sieht dann die Strategie bei Liip aus? Liip hält sich wie im «Agile Manifesto» an sieben Prinzipien, welche den Alltag leiten und inspirieren:
- Sinnhaftigkeit über Gewinn
- Vertrauen über Kontrolle
- Praxis über Theorie
- Risiko über Sicherheit
- Flexibilität über Stärke
- Offen über geschlossen
- Kompass über Karte
Kaum einer kann die tiefgreifenden Auswirkungen dieser sieben einfachen Prinzipien erklären.
Zum Nicht-Schluss
Der Weg nach mehr Äquivalenz, Autonomie und Menschlichkeit von Liip ist noch nicht zu Ende.
Holacracy deckt nicht alle Bedürfnisse und löst nicht alle Probleme, sondern bietet (nur) einen unvergleichlichen Spielraum, in welchem die Energie der Mitarbeitenden und die Business-Dynamiken wertvoll wirken können. Durch ihre Reise hat sich die Organisation qualitativ entwickelt. Liip ist reifer und agiler denn je und kommuniziert den gegangenen Weg und den Glauben in neue Formen der Organisation auf verschiedenen Plattformen und in verschiedenen Formaten.