Leadership Essays 2024

Lost in Decision? Das Geheimnis erfolgreicher Entscheidungen in Projekt-Kernteams

Von Jasmin Frischknecht, Andrea Gir, Manuel Jost, Alexander Magno, Nicolas Schaltegger und Gunda Siemssen

Stell dir ein Schiff mitten im Ozean vor, das ohne Kapitän navigieren muss. Die Crew besteht aus erfahrenen Seeleuten, die gleichberechtigt gemeinsam Entscheidungen treffen müssen. Der Wind pfeift durch die Segel, Wellen schlagen gegen den Rumpf, und am Horizont zieht ein Sturm auf. Wie findet das Schiff seinen Kurs ohne eine zentrale Führungsperson? Diese Metapher hatten wir vor Augen, als wir uns zusammenfanden, um gemeinsam über bessere Entscheidungen in lateralen Teams nachzudenken.

Wir sind sechs Autor:innen aus verschiedenen beruflichen Bereichen (Gestaltung, Gewerbeverein, Industrie, Medienunternehmen, Gesundheitswesen) und sind regelmässig in (zum Teil schier endlose) Entscheidungsprozesse von lateral geführten Projekt-Kernteams involviert. In diesem Essay wollen wir solche Entscheidungsprozesse beleuchten und im besten Fall verbessern. Wir haben die von uns erlebten Entscheidungsprozesse reflektiert und uns auf die Suche nach einem Tool gemacht, das uns bei der Entscheidungsfindung unterstützt.

Das lateinische Wort «Latus» für «Seite» ist namensgebend für laterale Führung. In Teams, die lateral, also «Seite an Seite» zusammenarbeiten, gibt es keine Hierarchie. Die Zusammenarbeit basiert auf Kooperation, Kommunikation und Vertrauen. Diese Form der Zusammenarbeit erleben wir meist, wenn sich verschiedene Berufsgruppen zu Projekt-Kernteams zusammenschliessen, um an einem Projekt zu arbeiten.

Wir gehen von einem funktionsfähigen Team aus. Alle zusätzlichen Dynamiken sind ein eigenes umfangreiches Thema. Wir wollen unseren Entscheidungsprozess kollegial, reflektiert und zielorientiert miteinander gestalten.

Unsicherheiten führen zu verzögerten Entscheidungsprozessen

Die Entscheidungsfindung in Projekt-Kernteams erleben wir im Arbeitsalltag oft als langwierig, ineffektiv und frustrierend. Daher fragen wir uns, wie wir diese Prozesse verbessern können.

Wir vermuten, dass es vor allem aufgrund von Unsicherheiten zu Herausforderungen und Verzögerungen kommt. Mögliche Ursachen, die bei der Zusammenstellung eines Projekt-Kernteams berücksichtigt werden sollten, sind Interessenskonflikte zwischen den Zielen des Projekt-Kernteams und den Zielen der eigenen Abteilung der Mitglieder. Zudem sind unklare Verantwortlichkeiten bei sich überschneidenden Tätigkeitsfeldern, mangelndes Fachwissen für anstehende Entscheidungen oder mangelnde Erfahrung in der aktuellen Rolle zu nennen.

Verschiedene Autor:innen betonen die Vorteile lateraler Teams. Da die Mitglieder aus verschiedenen Abteilungen und Fachgebieten kommen, können sie ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Wissen einbringen. Dies ermöglicht umfassende Analysen und qualitativ hohe Entscheidungsergebnisse. Wir sehen diese Vorteile in unserem Arbeitsalltag bestätigt. Das Arbeiten in einem lateralen Team erleben wir aus diesen Gründen als wertvoll und bereichernd. Wenn nur die Nachteile nicht wären …

Gleiche Erfahrungen trotz unterschiedlicher Kontexte

Um die Faktoren für erfolgreiche Entscheidungsfindung zu identifizieren, haben wir in unserer Gruppe verzögerte Entscheidungsprozesse aus unserer beruflichen Vergangenheit analysiert. Wir waren überrascht, wie sehr sich unsere Erfahrungen glichen, obwohl wir in sehr unterschiedlichen Kontexten und Konstellationen arbeiten. Die Entscheidungen, die wir analysierten, waren operativer Natur, z. B. eine Umsetzungsidee für eine Messe, eine Entscheidung über ein Produktportfolio, das Design eines Produktionsteils und die Angleichung von Standards in einer Klinik. Obwohl diese Situationen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind, erkannten wir die gleichen Fehlertypen, die die Entscheidungsfindung verzögert hatten.

Das Fehlen klarer Entscheidungskriterien sehen wir als häufigstes Problem. Teammitglieder haben unterschiedliche oder eigene Kriterien, denn oft versäumten die Teammitglieder, gemeinsam festzulegen, welche Kriterien essenziell und welche «nice to have» sind. Häufig sind die Kriterien nicht präzise genug bewertet. Es macht einen Unterschied, ob das Kriterium nur «Kosten» oder präziser «Kosten müssen unter 7000 Franken sein» lautet. Zudem gibt es Unsicherheiten bei neuen Teammitgliedern, die sich oft nicht trauen, ihre Rolle voll einzunehmen, oder die sich ihrer Rolle nicht bewusst sind, was zu inhaltlichen Lücken führen kann. Wichtig ist auch, dass Klarheit über den Entscheidungsmodus besteht. Es muss festgelegt sein, nach welchen Regeln entschieden wird und ob das Team Entscheidungsgewalt besitzt oder nur ein Vorschlagsrecht hat. In allen Fällen führt diese Unsicherheit dazu, dass «Nicht-Entscheiden» als sichere Variante gewählt wird, was den gesamten Entscheidungsprozess verzögert.

Diese Zusammenschau führt uns zu nachfolgenden Erkenntnissen: Wenn wir ohne Vorgesetzte arbeiten, benötigen wir eine klare Verortung. Man muss sich darauf einigen, wie der Entscheidungsprozess gestaltet ist und nach welchen Kriterien er beurteilt wird. Der Entscheidungsmodus soll zu Beginn der Zusammenarbeit festgelegt werden. Wird die konkrete Entscheidung im Konsens, demokratisch, im Konsent oder per Los getroffen?

Wir verorten uns, bevor wir Entscheidungen treffen

Wir stellen ein Tool zusammen, das uns dabei unterstützt, den Überblick zu bewahren und speditiv Entscheidungen zu treffen. Im ersten Schritt steht die Analyse der Situation: Wo befinden wir uns und welche Art von Entscheidung ist erforderlich? Dies betrifft die Situation vor dem eigentlichen Entscheidungsprozess. Handelt es sich um eine einfache Situation mit klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen? Eine komplizierte Situation, die Expertenwissen erfordert? Eine komplexe Situation mit unvorhersehbaren Wechselwirkungen? Oder eine chaotische Situation, die sofortiges Handeln erfordert?

Für diese Verortung haben wir eine Checkliste mit folgenden Fragen erstellt:

  1. Interessenkonflikte: Gibt es widersprüchliche Ziele oder Erwartungen innerhalb des Projekt-Kernteams?
  2. Fachwissen: Verfügen die Teammitglieder über das notwendige Wissen, um fundierte Entscheidungen zu treffen?
  3. Verantwortlichkeiten und Rollen: Sind diese klar definiert, ausgesprochen und akzeptiert?
  4. Unsicherheiten: Welche unbekannten Faktoren beeinflussen die Entscheidung? Wodurch könnten Teammitglieder verunsichert sein?
  5. Risiken: Welche potenziellen negativen Folgen könnten auftreten?
  6. Entscheidungsfallen: Welche kognitiven Verzerrungen könnten die Qualität der Entscheidung negativ beeinflussen?

Die Verortung dient dazu, die Umstände, in denen das laterale Team entscheidet, zu prüfen. Es erscheint uns hilfreich, auf diese Fragen zurückzukommen, wenn der Prozess ins Stocken gerät. Allenfalls hat man eine Information in der Verortung übersehen.

Das Entscheidungsprotokoll: Bewusste Trennung von rationalen und intuitiven Beurteilungen

Im Buch «NOISE – Was unsere Entscheidungen verzerrt und wie wir sie verbessern können» von Daniel Kahnemann, Olivier Sibony und Cass Sunstein haben wir einen passenden Ansatz entdeckt. Dort wird das Entscheidungsprotokoll beschrieben. Dieses Vorgehen, zusammen mit unserer Verortung, brachte uns der Lösung näher. Die zentrale These des Buches besagt, dass «Noise» (dt. «Lärm») unsere Entscheidungen unbewusst beeinflusst. Dies passiert fortlaufend, und wir machen uns im Alltag selten die Mühe, uns dessen bewusst zu werden.

Um bessere Entscheidungen zu treffen, empfiehlt Kahneman, rationale Kriterien und intuitiven Entscheidungen bewusst zu trennen, ohne einen der beiden Aspekte auszuschliessen. Zusätzlich schlägt er vor, dass Teams die Kriterien zunächst individuell bewerten und anschliessend gemeinsam diskutieren und vergleichen. Dies verdeutlicht unterschiedliche Sichtweisen und reduziert gegenseitige Beeinflussungen.

Sein Entscheidungsprotokoll, um unbewusste Störfaktoren zu reduzieren, umfasst sechs Schritte. Dieses Protokoll haben wir auf vier Schritte gekürzt und um eine «Kriterienmatrix» erweitert, um rationale Kriterien und Bauchgefühl gleichermassen zu beachten, aber nicht zu vermischen.

Unser Entscheidungsprotokoll in vier Schritten

  1. Entscheidungskriterien definieren inkl. Killerkriterien
  2. Einzelne Kriterien getrennt voneinander beurteilen und Punkte verteilen
  3. Punktzahl/Bewertungen im Team vergleichen und bei grösseren Differenzen gegenseitig nachfragen
  4. Rationale Beurteilung mit der Intuition abgleichen -> Entscheidung treffen

Wie funktionierts? Im ersten Schritt des Entscheidungsprozesses werden klare Entscheidungskriterien definiert. Diese Kriterien dienen zur Präzisierung und Priorisierung innerhalb des Projekts und helfen, sich auf wesentliche Faktoren zu konzentrieren. Grundlegende Missverständnisse können hier geklärt werden. Die Mitglieder des Projekt-Kernteams verpflichten sich, nach diesen Kriterien zu entscheiden. Dabei können die Teammitglieder sogenannte Killerkriterien festlegen, die zwingend erfüllt sein müssen, etwa die Einhaltung des Kostenrahmens oder bestimmter Industrienormen.

Im zweiten Schritt bewerten die Mitglieder die definierten Kriterien unabhängig voneinander. Die Matrix hilft, diese Bewertungen zu visualisieren und zu protokollieren. Ein numerisches Punktesystem macht die Einzelbewertung übersichtlich. Im dritten Schritt werden die Bewertungen der Mitglieder verglichen. Grössere Unstimmigkeiten können Anlass zur Diskussion geben, um die unterschiedlichen Perspektiven und Argumente zu verstehen. So hat man eine gute Übersicht.

Im spannenden vierten Schritt werden die Punkte und die daraus resultierende Rangfolge der intuitiven Einzelbewertungen gegenübergestellt. Dabei wird geprüft, wie sich die Bewertungen anfühlen und welche Erfahrungen sie widerspiegeln. Was sagt das Bauchgefühl zu der rationalen Bewertung? Wie fühlt sich die Bewertung an, was sagt mir meine Erfahrung? Löst das Ergebnis in mir Widerstand oder Tatendrang aus? Anschliessend trifft das Projekt-Kernteam eine Entscheidung nach dem festgelegten Entscheidungsmodus.

Dieser Entscheidungsprozess ermöglicht es dem Projekt-Kernteam, strukturierte und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen. Allenfalls dient er auch dazu, eine fundierte Empfehlung für eine Abteilung in der Organisation oder die nächsthöhere Hierarchiestufe abzugeben. Wir sind begeistert von der Klarheit des Ablaufs und der Übersichtlichkeit der Kriterien und wollen direkt ausprobieren, ob es funktioniert.

Anwendung des Entscheidungsprotokolls

Würde sich das Entscheidungsprotokoll auch bewähren, wenn wir es in unserer gemischten Essaygruppe für fachfremde Entscheidungen nutzen?

In unserem Anwendungsbeispiel geht es darum, eine geeignete Kommunikationsagentur für die Umsetzung einer Marketingkampagne zu finden. Die Kriterien (1) beziehen sich auf die Kosten, die Erfahrung der Agenturen, den Zeitrahmen der Fertigstellung, juristische Aspekte und auch den persönlichen Eindruck im Umgang miteinander während der ersten Kontakte. Vier Agenturen haben Offerten eingereicht (2).

Wir sehen in der rationalen Bewertung Agentur 1 und Agentur 2 als beste Optionen. Diese Bewertung wurde durch unsere Intuition gestärkt. Wir sind überrascht, dass unsere unabhängig gemachten Einzelbewertungen im Vergleich die gleiche Tendenz zeigen. Somit haben wir ein klares Ergebnis. Die Entscheidung konnte überzeugend an die Geschäftsleitung kommuniziert und begründet werden und wurde inzwischen so umgesetzt.

Es funktioniert: Wir sind begeistert von der Kombination Verortung und Entscheidungsprozess. Sie schützt uns vor vorschnellen, intuitiven Beurteilungen und hilft, eine gut begründete und abgewogene Entscheidung zu treffen. Einen Schritt fehlt uns noch: Durch eine systematische Reflexion der Entscheidungsprozesse im Nachhinein können Teams ihre Entscheidungsfähigkeit kontinuierlich verbessern. Dies stärkt nicht nur die Zusammenarbeit und das Vertrauen innerhalb des Teams, sondern fördert auch die Kultur des Lernens und die ständige Weiterentwicklung, die für den Erfolg lateraler Teams von zentraler Bedeutung ist.

Unser Tool führt zu effizienteren Entscheidungen

Wir können nun die Vorteile von lateralen Teams nutzen, ohne die Nachteile langwieriger Entscheidungsprozesse in Kauf zu nehmen.

Verortung
+ Entscheidungsprotokoll
+ Reflexion
= Effizientere Entscheidungsfindung

Unsere Rechnung stimmt. Wir haben die Verortung, die uns erlaubt, die Situation zu analysieren und Unsicherheiten zu benennen. Der zweite entscheidende Schritt ist das Entscheidungsprotokoll, das uns eine Struktur für den rationalen und intuitiven Entscheidungsprozess gibt und mit der Matrix erlaubt, die Entscheidungskriterien klar festzulegen und zu bewerten. Um diese Schritte zu überprüfen und zukünftige Fehler zu vermeiden, ist die Reflexion nach erfolgten Entscheidungsprozessen äusserst wertvoll.

Wir sind erstaunt, dass die Festlegung des Prozederes und der Kriterien viel weniger Zeit in Anspruch nimmt, als wir dachten, und dass wir tatsächlich ein Tool haben, das wir universell nutzen können.

Wir fühlen uns gut gerüstet für Ausfahrten ohne Kapitän, aber auch neugierig und wachsam ob der trügerischen Ruhe vor dem Sturm. Ahoi und gute Fahrt!

Download
Seid ihr auch «Lost in Decision», wie wir es waren? Wir haben unser Navigationstool digitalisiert und bieten es für den freien Gebrauch als Download an:

Navigationstool «Lost in Decision» (PDF, 195KB)

Wir freuen uns über eure Erfahrungsberichte.


Quelle

Kahneman, D., Sibony, O., & Sunstein, C. R. (2021). Noise: Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können. Siedler.

Hinweis zur KI-Nutzung: In diesem Essay wurde Künstliche Intelligenz zu Recherchezwecken verwendet.