Leadership Essays 2018

Vier zeitlose Führungsprinzipien aus der Steinzeit

Sandro Breu, Lisa Nesticó, Claudio Vögtli

Mit der Digitalisierung und der exponentiellen Entwicklung der Möglichkeiten sehen wir in eine Zukunft, welche wir kaum erahnen können.

Wohl aber wird die kommende Zeit, vor allem durch die exponentielle Entwicklung der Technik, sehr viel unvorhersehbarer, weniger planbar und komplexer als das, was uns aus den letzten Jahrtausenden vertraut ist. Denn über viele Jahre wurde mit bekannten oder sich nur langsam verändernden Methoden dafür gesorgt, dass wir Menschen überlebten und gediehen. Das Leben unserer industriell oder landwirtschaftlich tätigen Vorfahren war relativ plan- und vorhersehbar.

Wie nun finden wir mit den Erfahrungen aus diesen trägen Zeiten neue Führungsansätze, welche in einer unvorhersehbaren Zukunft erfolgreich sein werden? Indem wir in einer unvorhersehbaren, weniger planbaren und komplexeren Zeit nach Antworten suchen: der Steinzeit.

Die Homo sapiens der Steinzeit

Vor zehntausenden Jahren wurde die Erde von verschiedenen Menschenarten bewohnt. Ihre Existenz sicherten sich diese als reine Jäger-Sammler-Gemeinschaft. Sie waren den unvorhersehbaren Launen und auch den Gefahren ihres wilden und natürlichen Umfelds ausgesetzt. So waren diese Menschen wohl gezwungen, sich ständig auf verändernde Umstände, auf Unbekanntes und Neues einzulassen und dabei flexibel und einfallsreich vorzugehen.

Während all die anderen Menschenarten ausgestorben sind, hat der Homo sapiens – also wir – die Steinzeit nicht nur überlebt, sondern sich in dieser Zeit an die Spitze aller Lebewesen gesetzt. Was machte den Homo sapiens in der Steinzeit so erfolgreich? Gibt es Rezepte, welche in dieser unvorhersehbaren, unplanbaren und komplexen Zeit funktionierten und uns modernen Menschen dabei helfen könnten, uns durch das herausfordernde Heute und Morgen zu führen?

Diesen Fragen sind wir nachgegangen und haben vier zeitlose Führungsprinzipien aus einer evolutionären Perspektive untersucht, welche in Organisationen heute ebenso wie in der Zukunft von Bedeutung sein können.

Führungsprinzip Nr. 1: Bindungssteigernde Banalität

«Menschen die sich durch Gespräche miteinander identifizieren können, kooperieren besser, arbeiten enger zusammen, unterstützen sich und sind stärkere Teamplayer.»

Die Untersuchung

Vor rund 70’000 Jahren begannen die kognitiven Fähigkeiten der Menschen – Lernfähigkeit, Gedächtnis, kommunikative Kompetenz und Imagination – sich deutlich zu steigern. Interessant an dieser kognitiven Revolution ist, dass sie vorwiegend beim Homo sapiens stattfand. Andere zum Teil parallel existierende Menschenarten wie der Neandertaler oder Australopithecus africanus entwickelten sich kognitiv nicht in der ausgeprägten Art und Weise wie unsere Vorfahren (Foley, 1997; Wilson, 1975).

Es existieren unterschiedliche Theorien, weshalb sich die übrigen parallel existierenden Menscharten evolutionär nicht durchgesetzt haben und ausgestorben sind. Das, obwohl diese physisch zum Teil besser für die damaligen Umstände gerüstet gewesen wären als unsere Vorfahren. Eine Theorie stützt sich auf die kognitive Revolution. Der Homo sapiens entwickelte dadurch die Möglichkeit, sich expliziter auszudrücken. Damit war es ihm möglich, überlebensnotwendige Informationen detaillierter zu teilen.

Noch viel interessanter, und gemäss einigen Wissenschaften auch entscheidender, war aber die zunehmende Fähigkeit, uns durch Sprache zu identifizieren: mit Gesprächen, Diskussionen, Plaudereien, Tratsch und Klatsch (Freeman, 1970). Diese kleinen beiläufigen Plaudereien hier und da, die Gespräche oder Diskussionen haben schlussendlich dazu geführt, dass unsere Vorfahren Gemeinschaften gebildet haben, welche durch ihren Zusammenhalt überlebensfähiger waren als die übrigen Menschenarten.

Die Erkenntnis

Menschen, welche in Gruppen erfolgreich kooperieren müssen, sollten eine lebendige Gesprächskultur fördern, welche auch den Austausch von vordergründig Banalem zulässt. Plaudereien über Fussball, Wetter, Rückenschmerzen, Kinder, oder ganz einfach Andere tragen zwar nicht direkt zum erfolgreichen Projektabschluss oder Erreichen der Verkaufsziele bei – jedoch gilt, dass Menschen, welche sich durch Worte näherkommen und sich durch Kommunikation miteinander identifizieren, besser kooperieren, enger zusammenarbeiten, sich unterstützen und stärkere Teamplayer sind. Eine kürzlich durchgeführte Studie mit mehr als 100 Unternehmen stützt diese These (Groysberg & Slind, 2012).

Die aktive Förderung von Plaudereien innerhalb einer Organisation stärkt also das Team und die Unternehmenskultur. Alseines der Führungsprinzipien von damals hilft es auch in heutigen oder zukünftigen herausfordernden Umfeldern, ein starkes Team zu bilden und erfolgreich zu führen.

Führungsprinzip Nr. 2: Ideologische Sehnsucht

«Ideologien treiben Menschen an, sie sind die Energie, die sie zum Handeln bringt.»

Die Untersuchung

Die kognitive Revolution brachte nebst unserer Plauder-Fähigkeiten noch weitere Kompetenzen mit sich. Über die Zeit lernte der Homo sapiens nicht nur, komplexere Vorgänge und Dinge zu beschreiben, sondern gar Unvorstellbares zu kreieren und dies dank der Sprache wiederzugeben.

Wir entwickelten also die Gabe, Legenden, Geschichte, Mythen und Götter zu erfinden, diese beschreibend echt erscheinen zu lassen und über wiederholende und verbreitende Erzählung bei möglichst vielen anderen Vertretern unserer Gattung prägend im Bewusstsein zu verankern. Dies war ein entscheidender Faktor, um eine grössere Anzahl Menschen zusammenzuschweissen.

Mit einfachsten sozialen Instinkten schaffte der Homo sapiens, Gruppen von ca. 20 bis 50 Mitgliedern zu bilden.

Dank der erlernten Fähigkeit des Plauderns waren wir dann fähig, in Gemeinschaften von bis zu ca. 150 Menschen soziale Banden zu knüpfen und zu kooperieren (Dunbar, 2004).

Und dann wuchs die potenzielle Zahl der Menschen, mit welchen wir uns identifizierten, nochmals. Weil wir Mythen, Götter und Legenden erfinden, diese verbreiten und gemeinsam daran glauben konnten. Der Homo sapiens, der dadurch stärker zusammenhielt und gut miteinander kooperierte, hatte durch die kleinere Gruppenbildung gegenüber anderen Menschenarten einige überlebenswichtige Vorteile.

Die Erkenntnis

Ideologien führen dazu, dass sich eine grosse Zahl von Menschen gleichermassen identifizieren kann und kooperiert.

Entsprechende gesellschaftliche Binde- und Schmiermittel unserer Zeit sind staatliche Verfassungen oder Religionen. In Organisationen wird von Vision oder Sinn beziehungsweise purpose gesprochen.

Wenn eine starke Vision fehlt, mit der sich die Menschen in einer Organisation identifizieren können, müssen Motivation, Loyalität oder der Wille zur Zusammenarbeit erkauft werden. Finanzielle Anreize bedürfen aber entsprechender Mittel. Und auch diese sind oft nicht ausreichend, um eine dauerhafte Bindung zu garantieren. Zudem gilt die Tatsache, dass intrinsische Motivation eher Berge versetzt als extrinsische.

Halten wir uns nochmals unsere Vorfahren vor Augen: Weil der Homo sapiens unter anderem höhere Dinge denken und formulieren konnte sowie andere daran glauben liess, hat er es geschafft, sich zusammenzuschliessen und durchzusetzen. Erfolgreiche Führung weiss sich dieser Fähigkeiten zu bedienen. Und schafft für ihre Organisation eine Vision, mit der sich Menschen identifizieren und entsprechend stark kooperieren.

Führungsprinzip Nr. 3: Demokratische Dominanz

«In den Organisation von heute und morgen braucht es einen auf Vertrauen und Respekt basierenden Umgang ohne Dominanz. Nur so kann Arbeitszufriedenheit und Empowerment gesteigert werden.»

Die Untersuchung

Das Überleben unserer Vorfahren war von der Zusammenarbeit und dem Zusammenhalt der Gruppe abhängig. Entsprechende soziale Forschungen bei unseren Vorfahren der Steinzeit sind aufgrund der fehlenden Überlieferungen leider nicht möglich.

Hinweise für das Verhalten von steinzeitähnlichen Gruppen finden sich aber heute noch bei Jäger- und Sammlerkulturen. Zum Beispiel bei den Kung San in der Kalahari-Wüste, bei den Yanomami des Amazonasbeckens und den Inuit der arktischen Küsten (EE A; Bowlby, 1969; Foley, 1997). Diese Jäger und Sammler schliessen sich in Gruppen ohne formale Hierarchien sowie ohne geschlechterspezifische Rollen zusammen. Autorität beschränkt sich dort auf die Situation oder Tätigkeit. Gruppenmitglieder mit weitreichenden Kenntnissen und Fähigkeiten haben eine gewisse Sachautorität inne. Dadurch ist auch das Vertrauen der Gruppe gegeben. Wenn einzelne versuchen, ihre Gruppe zu dominieren, stossen diese auf heftigen Widerstand der anderen. Durch Loyalität und Zusammenhalt stellt die Gruppe das dominierende Mitglied wieder in die Reihen. Diese Regelung führte zu einem demokratischen Führungsstil, der möglicherweise fast 2,5 Millionen Jahre alt ist.

Altruismus, Empathie, Moral, soziale Identität und Integrität waren wichtige Eigenschaften für das Gedeihen von Gemeinschaften in der Steinzeit. Darwin bemerkte dazu einst: «Ein Stamm mit vielen Mitgliedern, die immer bereit sind, einander zu helfen und sich für das Gemeinwohl zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme siegen, so entsteht natürliche Auslese.» (Bloom, 2000; Darwin, 1871; Sober & Wilson, 1998)

Platz für Individualisten und klassische Anführer gab es zu dieser Zeit nicht. Entscheidungen wurden demokratisch gefällt. Aufgaben wurden nach Kompetenz vergeben, und nicht nach Dominanz oder Geschlecht.

Die Erkenntnis

Die Gemeinschaften unserer ältesten Vorfahren funktionierten im Wesentlichen wie demokratische Gebilde ohne Machtkonzentration. Diese Gruppen wurden durch Fairness, gegenseitigen Respekt und einem Sinn zum Wohl der gesamten Gruppe zusammengehalten. Mitglieder konnten sich auf den jeweils anderen verlassen und vertrauten der Gruppe. So wurden wir erfolgreich.

In den Organisationen von heute und morgen braucht es einen auf Vertrauen und Respekt basierenden Umgang. Mit dem Umdenken von Eigennutzen zu Gemeinschaft als Haltung wird die Bindung, das Engagement und der Zusammenhalt gestärkt sowie Gleichgültigkeit und Entfremdung entgegengewirkt.

Erfolgreiche Organisationen wie Toyota, GoreTex und Virgin sind bereits nach dem Prinzip der Jäger-Sammler-Gruppen organisiert. Zum Beispiel übergeben diese Unternehmen Entscheidungsfragen an untere Führungsebenen ab. Es zählt Kompetenz statt Hierarchie und der Macht ein paar Einzelner – die Grundlage für Erfolg der gesamten Organisation («What is Democratic/Participative Leadership? How Collaboration Can Boost Morale», 2018)

Führungsprinzip Nr. 4: Freigelassene Neugierde

«Erfolgreichen Organisationen benötigen Rahmenbedingungen und Raum, damit die Menschen darin ihr Potenzial vollumfänglich ausschöpfen können.»

Untersuchung

Über die Zeit erforschten, entdeckten und bevölkerten unsere Vorfahren praktisch den gesamten Planeten. Einerseits aus klimatischen Zwängen, aber andererseits auch aus der Neugier heraus, wissen zu wollen, was auf der anderen Seite eines Berges, Sees, der Bering-Landbrücke oder gar jenseits des Meeres auf einen warten könnte.

Woher kam diese Neugierde und die kreative Fähigkeit, sich in immer wieder neuen Umfeldern anzupassen und sich behaupten zu können?

Um diese Fragen zu beantworten, beschäftigt sich die Wissenschaft mit der Frage, wie Menschen in der Steinzeit aufgewachsen sein könnten. Um eine Vorstellung davon zu erhalten, werden Jäger-Sammler-Gemeinschaften wie die Ju/’hoansi aus Afrikas Kalahari-Wüste, die Hazda aus den tansanischen Regenwäldern oder die Aché aus Ostparaguay erforscht (Gray, 2011).
Vorhandene Nahrung und auch Gruppengrössen haben und hatten einen Einfluss auf die Geburtenraten. Geburten lagen in der Steinzeit jeweils weit auseinander. Die Anzahl gleichaltriger Spiel- und Lernkameraden war dementsprechend klein. Spielen und Lernen fand somit meist in altersgemischten Gruppen statt. Während man heute mit eher Gleichaltrigen lernt und in einem kleinen familiären Rahmen aufwächst, spielte sich das Leben in der Steinzeit in viel diverseren Strukturen ab. Von dieser Diversität und Durchmischung werden die Kleinen, Jungen, Erwachsenen und Alten gleichermassen voneinander profitiert haben.

Lernen fand in der Steinzeit wohl hauptsächlich durch Beobachten, Ausprobieren und Selbsterfahrung, und nicht durch reine Vermittlung, statt. So wurden wohl auch immer wieder neue Lösungen entdeckt,da das Bekannte wohl meist nicht direkt und absolut vermittelt wurde.

Interessant an den Jäger-Sammler-Kulturen ist zudem, dass diese viel weniger Stunden pro Tag für eigentliche Arbeit aufwenden. Unsere Arbeitsstunden pro Tag haben mit und nach der landwirtschaftlichen Revolution nur noch zugenommen.

Die zur Verfügung stehende Freizeit bei den Jägern und Sammlern wurde vermutlich neben Gemeinschaftszeit grossteils zur Erholung genutzt: unter einem Baum liegen und ins Blätterdach schauen, herumstreunen und Steine in einen ruhigen See werfen.

Es ist bekannt, dass ausgeruhte Gehirne kreativer sind als gestresste. Studien belegen zusätzlich, dass der Mensch ausgeruhter, nachdenklicher und besinnlicher wird, wenn er mehr Zeit im Grünen verbringt (Shonstrom, 2015).

Die Kombination der Faktoren Diversität, Erholung und inspirierende Umgebung waren hervorragende Quellen, um Neugierde und Kreativität zu fördern.

Die Erkenntnis

Der Homo sapiens der Steinzeit hat vorgelebt, wie man sich bestmöglich organisiert und sich im Sinne eines Unternehmens den ständig verändernden Rahmenbedingungen nicht nur anpasst, sondern erfolgreich daraus entwickelt:

Einen Rahmen schaffen, damit die Mitarbeitenden Dinge selbst erfahren und weiterentwickeln können
Diversität fördern, damit sich Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen gegenseitig inspirieren
Bewusste Erholungszeiten ermöglichen, damit das geforderte Gehirn aus dem Trott kommen und Neues überhaupt kreieren kann
Ein örtliches Arbeitsumfeld bauen, welches Rückzugsmöglichkeiten bietet und die Gedanken inspiriert und beflügelt

Führung von erfolgreichen Organisationen beschränkt sich weniger auf das eigentliche Führen, sondern viel mehr darauf, Rahmenbedingungen und Raum zu schaffen, dass die Menschen der jeweiligen Organisationen ihr Potenzial voll ausschöpfen und einbringen können.

Die Schlussfolgerung

Die vier zeitlosen Führungsprinzipien aus der Steinzeit – Plaudern, Vision, Demokratie und Rahmenbedingungen – sind kaum abschliessend und allumfassend für die Führung von Organisationen in den anspruchsvollen Umfeldern von heute und morgen zu übertragen.

Interessant war aber, dass wir bei den Untersuchungen des Homo sapiens der Steinzeit und der Jäger-Sammler-Gemeinschaften auf Ansätze gestossen sind, welche in modernen Führungskonzepten zum Teil bereits verfolgt werden. Dies bestärkt uns, die entsprechenden Konzepte weiterzuverfolgen. Zudem haben wir mit beispielsweise Plaudern neue Prinzipien entdeckt, welche genauso wie zum Beispiel Holacracy (demokratische Dominanz) ihre Berechtigung als Führungsprinzip haben.

Auffällig an den Ansätzen aus der Steinzeit ist, dass diese menschlich und bestechend simpel sind. Als übergreifende Schlussfolgerung ziehen wir, dass Führungskonzepte für komplexe und unvorhersehbare Umfelder weniger technisch und konstruiert sein sollten, sondern näher an unserer menschlichen Natur, weil wir in ihr unsere evolutionären Fähigkeiten voll und ganz ausschöpfen können.