Leadership Essays 2019

Werde dein Profil!

Pascal Geissbühler, Gründer und Inhaber Biographis Creating Careers

Die Pflege des Ich mag in unseren Breitengraden auf Skepsis stossen. Leider: Denn Selbstentwicklung ist nicht Egozentrik, sondern gehört zu einer Schlüsselkompetenz im digitalen Zeitalter. Sie ist Voraussetzung für neue Formen der Zusammenarbeit und für erfolgreiches Leadership in und von Organisationen. Ein Plädoyer für das Ich auf dem Weg zum Wir.

Beim Begriff der Selbstentwicklung höre ich Kritik laut werden. Es sind Warnungen vor der «Ich-AG», vor der Selbstoptimierung als kapitalistische Ausbeutung des Individuums, vor dem Leistungsdruck der heutigen Gesellschaft und vor der Angst, den Menschen als Ware und Produkt feil zu bieten. Survival of the fittest? Mitnichten. Wir sind heute mehr denn je eingeladen, unser Selbst zu entdecken. Ein Blick auf die Teilnehmenden im CAS Design Leadership zeigt: Über 80 Prozent geben als Motivationsgrund an, ihr Profil als Berufs- und Führungsperson schärfen zu wollen. Es scheint also ein Bedürfnis zu sein, sich seiner eigenen Stärken bewusst zu werden und sich beruflich verorten zu können. Eine persönliche Profilschärfung kann dabei unterschiedlich motiviert sein. Sei es, um eine bestehende oder neue Rolle besser zu spielen, sei es, um eine Neuorientierung optimal vorzubereiten und zu begleiten. Oder sei es einfach aus Neugier, aus Lust am Neuen und am Austausch mit Gleichgesinnten im kreativen Umfeld einer Designhochschule. Dieses Bedürfnis nicht ernst zu nehmen, wäre ein Ausdruck von Arroganz und Weltfremde. All jene, die in einer Führungsposition – generell oder in der Kreativwirtschaft – stehen, erleben nur zu gut, was es heisst, sich in der Komplexität der heutigen Arbeitswelt erfolgreich und sinnstiftend zu positionieren und weiterzuentwickeln.

Profilarbeit als eine Schlüsselkompetenz der Zukunft

Die Anforderungen an viele Berufsbilder steigen. Dies ist eine weit vertretene Meinung, die unter anderem auch zur steigenden Nachfrage nach Tertiärabschlüssen führt. Die Hochschullandschaft boomt, der Weiterbildungsmarkt in der Schweiz ist ein Milliardenmarkt. Lebenslanges Lernen, so das Motto, wird kaum ernsthaft hinterfragt. In der Tat, der rasche Wandel in allen Lebensbereichen, insbesondere die digitale Transformation, verändert die Arbeits- und Berufswelt zunehmend. Bewährte Geschäftsmodelle werden hinterfragt und neu entwickelt, tradierte Berufsbilder verschwinden, Neues entsteht. Was bleibt, wenn sich alles verändert?

Eine Antwort ist: Das Selbst, das Individuum in seiner Entwicklungsfähigkeit, mit seinen Möglichkeiten und vielleicht mehreren Identitäten. Gerade die starken Veränderungsdynamiken der heutigen Zeit verlangen nach einem Bewusstsein für das eigene Selbst, im beruflichen Kontext für das eigene Profil, die eigenen Stärken und Skills. Sich laufend weiterzuentwickeln und zu verorten im Abgleich mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes, wird zu einer Schlüsselkompetenz. Der unmöglich klingende Begriff der employability zielt darauf ab. Auch die neuen agilen Formen der Zusammenarbeit, welche die Selbstorganisation in Unternehmen stärken, führen dazu, dass sich Menschen in ihren Stärken und Schwächen und damit in ihrem Selbst besser reflektieren, erfassen und vermitteln können. Auf diese Weise werden sie mit ihrer unmittelbaren Präsenz und Wirkung vertraut werden und zu Entscheidern werden. Nicht zuletzt sind Kreativität und Sozialkompetenz gemäss einem Bericht von Deloitte wichtige Kompetenzen im 21. Jahrhundert: Dazu zählt eigenes Denken, Selbstreflexion und Empathie sich selber und anderen gegenüber. All dies stärkt in der Konsequenz die hohe Bedeutung der Selbstentwicklung. [1]

Gestalter sind genuine Selbstentwickler

Selbstentwicklung zu negieren oder zu kritisieren, wäre aus meiner Sicht ein Negieren grundlegender Entwicklungen in der heutigen Zeit, eine Abwendung vom Menschen und seinen realen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ich plädiere darum für ein Verständnis der Selbstentwicklung, das auf die Möglichkeiten und Freiheiten des Individuums fokussiert, Lebens- und Arbeitswelten zu gestalten, zu verändern und zu beeinflussen. Selbstentwicklung ist ein Prozess, der auf der Ansicht beruht, dass Menschen immer wieder Möglichkeiten schaffen wollen, zu entscheiden und sich zu entwickeln. Niemals absolut und niemals ohne Kontext, sondern im Verhältnis und in Interaktion zum Umfeld. Aber immer im Respekt vor der eigenen Biografie, den darin angelegten Spuren und den damit markierten Unterschieden. Selbstentwicklung ist damit nicht nur Konsequenz aufgrund äusserer Zwänge und Entwicklungen im Arbeitsmarkt. Sie ist Ausdruck einer tiefen menschlichen Gestaltungslust, einer intrinsischen Neugier und Offenheit. Wer aus der Welt der Gestaltung und des Designs kommt, weiss: Hier ist kein Zustand gemeint, sondern ein andauernder Prozess, der niemals perfekt wird und aufhört. Damit ist die Haltung als Gestalterin oder Gestalter bezeichnet, Dinge oder Prozesse anders machen zu wollen – und zwar aus genuiner Lust an der Veränderung, an dem Vorher-Nachher-Effekt, an der Sichtbarkeit. Kurz gesagt: an der Optimierung von Welt. Hierbei packen Gestaltende Probleme in der Regel pragmatisch und konkret, und nicht abstrakt an. Selten wissen sie, wohin die Reise letztlich führt, sie sind stets dem Experiment verpflichtet, dem laufenden Versuch. Design Thinking ist die richtige Haltung für die eigene Selbstentwicklung. Und genau darum ist für mich eine gestalterisch-künstlerische Hochschule der passende Ort dafür: ein Ort der maximalen Selbstverunsicherung, ein Ort, an dem man lernt, sein eigenes Selbst zu entdecken, zu hinterfragen und zu verwerfen, neu zu entdecken und immer wieder zu finden. Hierbei halte ich es für entscheidend, zu lernen, sich selber dafür zu motivieren und zu disziplinieren. Ein perfektes Training in Selbstkompetenz. Und damit höchst relevant in der heutigen Zeit. Worum geht es dabei im Kern?

Werde, was du sein kannst

Gestalter zu sein ist nicht den Gestaltern vorbehalten, so die frohe Botschaft des Design Thinking. Vielmehr geht es um Haltung, Denkweisen und Arbeitsmethoden, die sich nicht nur auf alle Berufsgattungen übertragen lassen, sondern auch für alle Generationen und Senioritätsstufen – vom CEO bis zum Berufseinsteiger – anwendbar sind trotz unterschiedlicher Fragen und Themen.

In der Laufbahnforschung hat sich darauf basierend unter anderem an der Stanford University das Paradigma des Life Design zur Entwicklung der beruflichen Identität durchgesetzt. Es betont die hohe Bedeutung menschlicher Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und lebenslangen Lernens. Lebensentwürfe werden als individuelle Skripte und Narrative verstanden. What if? So lautet die zentrale Frage dieser Bewegung – oder in anderen Worten: Werde, was du noch nicht bist. Werde, was du sein kannst.

Das Bewusstsein für das eigene Profil ist ein Bewusstsein für die eigenen Erzählungen. Es sind die Lebensgeschichten, die Menschen stützen, gerade in Zeiten des beruflichen Wandels. Es geht darum, Spuren aufzudecken, Lebenspfade und Erfolgsmuster. Das Ziel ist hierbei, den eigenen Werten und Motiven näherzukommen, die Kombination spezifischer Stärken zu identifizieren, den Kompetenzen in den eigenen Erfolgen zu begegnen und die Misserfolge anzunehmen. All dies wirkt unterstützend, um neue Ideen für die Zukunft zu entwerfen oder bestehende berufliche Rollen und die aktuelle Positionierung zu stärken, um so über diese Spuren und Wegmarken letztlich zur eigenen Marke zu finden. Was braucht es dazu?

Wir dürfen Autodidakten werden

Ich habe den Boom im Weiterbildungsmarkt erwähnt und als Gastdozierender an einer öffentlichen Hochschule habe ich natürlich nichts gegen Bildung und Weiterbildung in offiziellen Institutionen. Dennoch möchte ich als Bild für den Selbstentwickler den Autodidakten ins Feld bringen. Er lernt im Alltag, in der Erfahrung, in den Projekten; er ist ein radikal Handlungsorientierter, der den Zufällen, den An- und Aufforderungen des Lebens spontan entgegentritt. Er entwickelt eine radikale Theorie des Tuns und der Praxis, aus eigener Empirie, eigener Erfahrung und ist durchaus autonom und selbstorganisiert, ohne Anschluss an eine offizielle Institution, dafür eingebettet in ein Netzwerk an Praktikern. Er ist ein radikaler Design Thinker, der das Risiko des Irrtums stets mit einkalkuliert und in der Lage ist, relevantes von nicht relevantem Wissen nach dem Prinzip des Eigeninteresses zu filtern im unmittelbaren Test mit der Umwelt. Intuitiv erkennt er Lernsituationen. Er erkennt, was funktioniert und bis wohin er gehen kann. Er ist wachsam. Probleme erkennt er aus Leidenschaft und Interesse, eine natürliche Neugierde seiner Umwelt gegenüber treibt ihn an. Er priorisiert und unterscheidet ganz eigenmächtig und vertraut dabei seinem Vorwissen. Er selbst ist, was er selber erfährt und lernt. Die Verantwortung für sein Lernen und sein Vorankommen kann er nicht an Diplome oder ECTS delegieren.

All dies sind nur ein paar wenige Eckwerte für ein Bild oder Vorbild des Selbstentwicklers als Autodidakten. Sind es nicht Eigenschaften, die wir uns für uns und andere wünschen? Wenn wir uns mehr Selbstentwicklung wünschen, dann kommen wir nicht umhin, selber ein Stück weit Autodidakten zu werden – oder besser – zu bleiben. Das gilt auch für Menschen in Organisationen, die wiederum ihre Selbstorganisation stärken möchten. Weshalb?

Vom Ich zur Organisation zur Markenfrage

Sich mit Selbstsorge selber zu entwerfen heisst, die eigene berufliche Identität eigenständig und unverwechselbar zu machen. Ich behaupte, dass dies eine grundlegende Voraussetzung ist, um eine passende sinnstiftende Rolle für andere, für Organisationen und für die Gemeinschaft zu spielen. Eine Schärfung des eigenen Profils hilft, das Profil von Organisationen erfolgreich weiterzuentwickeln, was letztlich zum Prinzip erfolgreicher Führung und Organisationsentwicklung führt. Denn das eigene Profil zu schärfen heisst auch, die eigene Marke im Kontext einer Organisation zu positionieren. Das heisst, einen Abgleich zu machen zwischen dem eigenen Profil und dem Profil der Organisation, dem Arbeitgeber oder eigenen Unternehmen. Ein Marken-Fit mit der zentralen Frage: Passen wir zusammen? Passen wir noch zusammen? Was ist mein Beitrag zum Erfolg der Unternehmensmarke? Kann ich mich mit Sinn und Zweck der Organisation genügend identifizieren? Bin ich UBS? Oder eher Migros Bank?

Damit sind wir bei der zentralen Frage von Leadership. Leadership heisst für mich, sich selber und andere für eine Reise zu motivieren mit dem Ziel einer sinnstiftenden Selbstentwicklung und erfolgreichen Positionierung von Individuum und Organisation. Wenn Menschen ihre Marke im Berufsleben aktiv gestalten, heisst das immer: ihre eigene und diejenige der Organisation. Denn nur so geht heute Führung. Nur so funktioniert heute Branding. Beides geht endlich vom Menschen aus.

Übrigens war ich auch einmal Student dieser Hochschule. Auch mich hat sie mitgeprägt auf dem Weg zu dem, der ich heute bin. Dafür bin ich ihr dankbar. Ich kann sie nur weiterempfehlen: aus Überzeugung und bei aller Liebe zum Bild des Autodidakten. Denn sie hat mich vor allem gelehrt, frei zu werden und den Autodidakten in mir zu bewahren.

Pascal Geissbühler ist Marken- und Laufbahnberater und Gründer von Biographis Creating Careers. Biographis hilft Menschen und Organisationen, ihre Identität zu entwickeln.

[1] Vgl. Deloitte: Welche Schlüsselkompetenzen braucht es im digitalen Zeitalter? Auswirkungen der Automatisierung auf die Mitarbeiter, die Unternehmen und das Bildungssystem.

https://www2.deloitte.com/ch/de/pages/innovation/articles/competencies-in-the-digital-age.html