Business Ecosystems sind ein neues Wirtschaftsparadigma
Manuel Küffer, Head of Digital Media Somedia
Die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien hat es in den letzten zwanzig Jahren ermöglicht, sehr effizient unter Einbezug der Kundinnen und Kunden neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln – und dies im Verbund mit Partnern aus anderen Industrien, welche komplementäres Know-how, Ressourcen, Daten oder fertige Komponenten mitbringen. Daraus sind viele innovative und der Konkurrenz überlegene sogenannte Business Ecosystems und Plattformen wie Google, Apple, Amazon, Tencent oder Alibaba entstanden: Player, die es zuvor nicht gab. Den Handel, die Musik- und die Medienindustrie haben sie bereits «disruptiert», und sie haben das Potenzial, auch weitere Branchen wie etwa Banken und Versicherungen zu «disruptieren».
Das Signal an die restliche Wirtschaft ist deutlich: Nur rasche Innovation kann die etablierten Player vor der Verdrängung retten. Und offensichtlich scheinen dynamische Gemeinschaften von Firmen, die über Industriegrenzen hinaus – zum Teil als Konkurrenten – miteinander neue Geschäftsmodelle und überlegene value propositions entwickeln, erfolgreicher zu sein als reine branchen- oder firmenbezogene Initiativen. Nicht nur grosse Firmen, sondern auch KMU haben eine sehr gute Chance, dabei neue Märkte und Kundensegmente zu erschliessen. Ein neues Wirtschaftsparadigma entsteht: echte Kooperation statt Konkurrenz.
Business Ecoystems entwickeln sich rund um Kundenbedürfnisse. Weil sich diese Kundenbedürfnisse an Themen und nicht an Industrien orientieren, überschreiten sie die Branchengrenzen. So spricht man von «Wohnen» statt «Immobilien», von «Mobilität» statt «Automobilbranche» und von «Gesundheit» statt «Krankenhaus». Um den Kundinnen und Kunden zu einem Thema die bestmögliche Erfahrung zu bieten – eine einzige Kundenschnittstelle, gute user experience, eine Rechnung, ein Support – sind Leistungen aus unterschiedlichen Industrien nötig. Ein Thema wie Wohnen bündelt Bedürfnisse wie Wohnungssuche, Finanzierung, Umzug, Einrichten, Renovieren, Versichern etc. und so kommt es, dass Immobilienportale, Facility Manager, Banken, Umzugsvermittler, Versicherungen ect. kooperieren und neue Lösungen entwickeln. Auf Kunden ausgerichtete Wirtschaftsformen sind klar ein neues Paradigma.
Die damit einhergehenden Herausforderungen liegen auf dem Tisch: Es braucht eine gemeinsame Vision, kooperative Strukturen sowie Führungs- und Managementkompetenzen wie Sozialkompetenz, Interdisziplinarität (betroffen sind ja viele Abteilungen wie Strategie, Innovation, Marketing, IT), Unternehmergeist und interkulturelle Kompetenzen. Auch ist eine Governance gefragt, die Entscheidungswege, Werteverteilungen und den Umgang miteinander regelt, aber trotzdem genug Offenheit und Flexibilität zulässt. Gerade grosse Firmen haben oft Mühe, sich solchen Kooperationen zu öffnen, weil sie es nicht gewohnt sind, Know-how zu teilen und Kontrolle abzugeben respektive nicht alles im Detail regulieren zu können.
Ein starker Lead ist also gefordert, und den kann nur der sogenannte «Orchestrator» des Ecosytems leisten. Er vertritt die Vision, hat eine starke Marke, besetzt die Kundenschnittstelle und hat vielleicht schon eine Plattform aufgebaut. Er verfügt über ausgeprägte Kompetenzen, zum Beispiel im Technologiebereich, und hat genügend Investitionsmittel und einen langen Atem. Und natürlich geniesst er uneingeschränkte Akzeptanz im Ecosystem. Das neue Wirtschaftsparadigma: Netzwerke statt Kunden-Lieferanten-Beziehungen.
Wir sehen aber auch das Problem: Im Bereich Wohnen zum Beispiel können sich für die Schweiz nicht mehr als 2-3 erfolgreiche Ecosystems entwickeln und folglich können nicht alle daran interessierten Banken und Versicherungen, welche aufgrund ihrer Ausgangslage in Frage kämen, Orchestratoren sein. Das Rennen ist denn zum Beispiel in diesem Bereich auch schon im Gang und es bilden sich allmählich Ecosystems heraus durch Kooperationen, Startup-Beteiligungen, M&A-Aktivitäten oder eigene Corporate Ventures.
Die Erkenntnis, dass nicht jede Firma immer Orchestrator zu sein braucht, sondern auch als provider oder contributor von Produkten und Services in meist mehreren Ecosystems erfolgreich sein kann, sollte zur Beruhigung derjenigen dienen, die fürchten, von der Entwicklung überrollt zu werden. Hierbei ist die gute Nachricht für Startups: Wer er schafft, mit einer starken value proposition eine Plattform aufzubauen und die Kundenschnittstelle zu besetzen, kann ebenfalls Orchestrator werden und etablierte Player ins Ecosystem holen. Allen gemeinsam ist jedoch das Risiko der gegenseitigen Abhängigkeit. Ein Partner, der aussteigt, kann nicht so einfach und schnell ersetzt werden.
Wie vorgehen? Es empfiehlt sich für jede Firma zunächst einmal zu überlegen, in welchen Ecosystems sie heute unterwegs ist, welche Rolle sie darin spielt, wie die Werteflüsse (Geld, Produkte/Services, Daten, Informationen) zwischen den Akteuren aussehen und welche Vor- und Nachteile die Akteure in der aktuellen Konstellation haben. Danach gilt es, jedes Ecosystems neu zu designen oder neue Ecosystems zu definieren – und zwar immer ausgehend von der core value proposition, d. h. von dem zentralen Kundenversprechen, welches die Vision bildet. Dabei werden neue potenzielle Teilnehmer identifiziert oder ein Akteur nimmt nicht mehr teil. Es ist immer ratsam, das Design des Ecosystems nicht linear zu planen und zu entwickeln, sondern – wie in der eigenen Produktenwicklung – iterativ und agil vorzugehen. Dies erlaubt schnell zu lernen, was funktioniert und was nicht, und die Risiken und Kosten zu minimieren. Und selbstverständlich soll dieser Designprozess nicht alleine im Kämmerchen geplant werden, sondern im Verbund mit den (potenziellen) Teilnehmern des Ecosystems: Ein neues Wirtschaftsparadigma!
Manuel Küffer ist Berater Digital Business Design & Development