Leadership Essays 2020

Editorial – Leadership in neuen Erfahrungswelten

Stefano Vannotti, Studienleitung MAS Strategic Design und CAS Design Leadership

Zugegeben: Derartige Turbulenzen hatte ich mir bestimmt nicht vorgestellt, als ich vor einem Jahr im Editorial zu eben dieser jährlichen Publikation des CAS Design Leadership über «Führung in turbulenten Zeiten» sprach. COVID-19 ist nicht nur unerwartet über uns hereingebrochen, sondern auch mit einer unerwarteten Vehemenz.

Besonders interessant erscheint mir neben vielen Aspekten der Umstand, dass gleichsam jeder unter uns in diese nicht zu erwartende Erfahrung geworfen wurde, quasi ein Realexperiment: miteinander, nahezu synchron und global. In diesem Sinne ist die Konfrontation und Bewältigung der Pandemie ein einzigartiges Ereignis und vielleicht auch eine Chance. Diese absurd anmutenden und auch sehr schmerzhaften Erfahrungen erzeugen eine Dringlichkeit, genauer hinzuschauen und Veränderungen anzustossen.

Auf Leadership bezogen kann man – ohne besonders mutig zu sein – konstatieren, dass durch die veränderten Praktiken (u. a. Homeoffice) und genutzten Technologien (u. a. Videokonferenzen) unvermittelt eine neue Realität Einzug gehalten hat. In der Essenz sind diese Veränderungen nicht besonders radikal, doch haben sie durch diese Krisensituation eine unumgängliche Akzentuierung erhalten. Auf drei dieser Aspekte möchte ich in aller Kürze eingehen.

Entscheidungen treffen

Manchmal ist es erforderlich, Entscheidungen zu treffen, obwohl keine ausreichende Wissensbasis vorhanden ist. Und weil Abwarten in gewissen Situationen keine Option darstellt, ist das Wichtigste in solchen Momenten eigentlich nur, einfach eine Entscheidung zu treffen. In seinem Kommentar zu den Herausforderungen des Führens in der gegenwärtigen Krisenzeit hat der Philosoph, Unternehmensberater und Autor Reinhard K. Sprenger diese Problematik anhand des Unterschieds zwischen einer Wahl und einer Entscheidung griffig erläutert [1]. Eine richtige Wahl basiert auf Fakten und Tatsachen. Eine Entscheidung, insbesondere in der erlebten Krisensituation, kommuniziert lediglich: «1. dass entschieden wurde, 2. wer entschieden hat, 3. wofür entschieden wurde, 4. wogegen entschieden wurde.» Ist die Faktenlage also dünn und gibt es in diesem Sinne keine Wahl, dann können bei Entscheidungen streng genommen auch keine Fehler begangen werden. Eine durchaus wichtige Nachricht für Führungskräfte, auch wenn sie mutiges Entscheiden natürlich nicht davor schützt, im Nachhinein ungerechterweise dennoch mit Kritik eingedeckt zu werden.

Sinn ermöglichen

Überraschende Veränderungen provozieren verstärkt die Frage nach dem Sinn und Zweck unseres gewohnten Tuns. Nicht anders war es während dieser Krise. Der Wunsch nach sinnerfüllter Arbeit rückt zusätzlich in den Fokus und fordert auch die Führungskräfte heraus. Die Sinnforscherin Tatiana Schnell unterscheidet vier Kriterien, welche uns unsere Tätigkeit als sinnvoll empfinden lassen [2]. Erstens Bedeutsamkeit oder das Gefühl, mit seiner Arbeit der Gesellschaft etwas zu nützen. Zweites Kriterium ist die Kohärenz, das heisst, dass unsere Handlungen mit unseren Werten und Interessen im Einklang sind. Drittens der Aspekt der Zugehörigkeit, also eingebunden zu sein und Wertschätzung zu erfahren. Und viertens, Orientierung oder purpose, das heisst, sich unter anderem mit Zielen eines Arbeitgebers identifizieren zu können. Ein Leader nun steht vor der Herausforderung, diese Merkmale idealerweise nicht nur für sich selbst möglichst positiv zu beurteilen, sondern als Führungskraft vor allem dafür verantwortlich zu sein, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich die vier Merkmale auch für die Mitarbeitenden erfüllen können.

Erfahrungen machen

Über gewisse Dinge einfach Bescheid zu wissen oder sie tatsächlich selbst zu erleben, sind von ganz unterschiedlicher Qualität. Diese Erkenntnis ist uns im Ausnahmezustand bewusster geworden denn je. Veränderung wird durch Erfahrung genährt. Erfahrungen prägen unsere Haltung und unser Handeln. Möchte man als Leader etwas anstossen, gilt es also in erster Linie, Erfahrungen zu gestalten. Der Schweizer Managementforscher Hans A Wüthrich spricht in diesem Zusammenhang auch von einem «Möglichkeitslabor» [3]. Er sieht solche experimentellen Settings als zentrales Mittel der Organisationsentwicklung: «Bei Experimenten handelt es sich um Interventionen, die das System irritieren. Es wird weggelassen oder verändert und anhand der Reaktion der Organisation lassen sich bisherige, die Wirklichkeit konstruierende Annahmen überprüfen.» Für Leader ist das als Aufruf zu verstehen, in die Rolle des Ermöglichers zu schlüpfen und geeignete Erfahrungs- und Reflexionsräume zu schaffen.

Leadership Publikation 2020

Die Beiträge der diesjährigen Leadership Essenzen greifen die hier ausgeführten Aspekte in unterschiedlicher Ausprägung auf. In ihrem einleitenden Plädoyer ruft Danica Zeier, Programmverantwortliche des CAS Design Leadership, dazu auf, mit Veränderung vor allem bei sich selbst zu beginnen. Die vier Essays der Absolvent*innen des CAS Design Leadership knüpfen daran an und thematisieren in ganz individueller Form Auswirkungen der Krise auf das Arbeiten zwischen Leader und Team: zentrale Herausforderungen der vorherrschenden Komplexität, das Zusammenspiel der Generationen, Demotivatoren im Arbeitsumfeld und die intensive Nutzung von Video-Teammeetings.

Je nachdem, was wir gerade erlebt haben, verändert sich die Bedeutung des Begriffs «turbulente Zeiten». Im Rahmen des diesjährigen CAS Design Leadership wurde dieser Bedeutungswandel direkt und ungefiltert miterlebt. Die neue Erfahrungswelt hat wichtige Aspekte des Leaderships verstärkt. Insbesondere indirektes Führen und das Mitgestalten am umgebenden System sind noch mehr in den Fokus gerückt. Wie mögen wir in einem Jahr auf die hier publizierten Leadership-Beiträge blicken? Fest steht, dass Themen des Entscheidens unter unsicheren Bedingungen, Aspekte sinnerfüllter Arbeit und das bewusste Mitgestalten an neuen Erfahrungswelten Führungskräfte sicher auch weiterhin prägen und beschäftigen werden.


Referenzen

[1] Vgl. Reinhard K. Sprenger (2020). Haben die Regierungen in der Corona-Krise die falsche Wahl getroffen? Nein, sie haben einfach entschieden. In: Neue Zürcher Zeitung, 6.6.2020. Zuletzt abgerufen am 26.6.2020.

[2] Vgl. Tatiana Schnell (2020). «Sobald wir zur Arbeit gehen, akzeptieren wir autoritäre Entscheidungen». In: Tages-Anzeiger vom 17.6.2020. Zuletzt abgerufen ab 26.6.2020.

[3] Vgl. Hans A. Wüthrich (2020). Die Corona-Krise als »Möglichkeitslabor« für die Zukunft begreifen! In: zfo Zeitschrift für Führung + Organisation: Zuletzt abgerufen am 26.6.2020.